Weihnachten am Naschmarkt
Beate Maly zählt seit Jahren zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Krimi-Autorinnen. Für die freizeit lässt sie ihren beliebten Kommissar Felix Zack ein Weihnachtswunder erleben.
Seit den frühen Morgenstunden fielen dicke, leichte Flocken vom Himmel und verliehen der Hauptstadt der Donaumonarchie einen sauberen Anstrich, den sie eigentlich nicht hatte. Niemand wusste das besser als Felix Zack.
Seit über vierzig Jahren arbeitete er als Kommissar bei der kaiserlichen Kriminalpolizei. In der Zeit hatte er die hässlichen Seiten Wiens kennengelernt. Es gab kein Verbrechen, das ihn erstaunen konnte, keine Boshaftigkeit, die er noch nicht kannte. In all den Jahren hatte Felix die Abgründe der Menschen kennengelernt. Doch heute wollte er mit all dem nichts zu tun haben.
„Köstlichkeiten aus sechzehn Kronländern wurden hier
angeboten. Salami aus Ungarn,
Orangen aus Triest, Speck aus Vorarlberg, Mehlspeisen aus Böhmen und Mähren ...“
Es war sein freier Tag, und wie unzählige andere in der Stadt hatte er vor dem Heiligen Abend noch einiges zu erledigen. Alles sollte ordentlich und fein sein, wenn er übermorgen den Christbaum aufstellen würde. Gemeinsam mit Dienstmädchen, Botenjungen und Hausfrauen drängte er sich an den Fratschlerinnen, Marktfrauen ohne Verkaufsstände, vorbei, um zu den vornehmen überdachten Ständen im Inneren des Naschmarkts zu gelangen.
Köstlichkeiten aus sechzehn Kronländern wurden hier angeboten. Salami aus Ungarn, Orangen aus Triest, Speck aus Vorarlberg, Mehlspeisen aus Böhmen und Mähren und vieles andere mehr.
K.u.k-Kommissar Felix Zack und sein Hund Gankerl erleben ein Abenteuer am weihnachtlichen Naschmarkt
©Illustration: Bartosz Chudy/SoraFelix lief das Wasser im Mund zusammen beim Anblick all der herrlichen Speisen. Seinem Hund Gankerl erging es nicht anders. Vor einem Jahr hatte der wuschelige graue Mischling mit den weichen Schlappohren noch auf der Straße gelebt, bis Felix ihn ins Herz geschlossen und bei sich aufgenommen hatte.
Jetzt saß Gankerl schwanzwedelnd vor einem Stand mit Bratwürsten und bettelte um einen kleinen Happen. Treuherzig schaute er zu Felix auf, in der Hoffnung, dass der sich erweichen lassen würde, doch Felix blieb unerbittlich.
„Zum Essen gibt es erst was, wenn wir alles erledigt haben“, sagte er streng und schaute auf seine Einkaufsliste, die noch lange nicht abgearbeitet war.
„Komm weiter“, forderte er, und Gankerl trottete seinem Herrchen mit enttäuschtem Blick nach. Sie schlängelten sich durch eine immer dichter werdende Menschenmenge.
Die Doyenne des heimischen Krimis hat nicht nur für die eine Weihnachtsgeschichte geschrieben, sondern auch einen ganzen Roman, den sie mit dem Untertitel „Eine Weihnachtsgeschichte“ versehen hat. Er spielt im Jahr 1926 am winterlichen Semmering. Eigentlich wollten Ernestine und Anton dort nur eine Kunstauktion besuchen – doch dann kommt es im Südbahnhotel zu einem Verbrechen ... (emons: Verlag, 222 Seiten, 18 Euro).
Außerdem neu von Beate Maly:
„Mord im Planetarium“
(emons: Verlag, 256 Seiten, 17 Euro)
Die herrlichsten Düfte stiegen Felix in die Nase. Zimt und Anis, Käse und Wurst, Fisch und Essig. Am liebsten hätte er alles gekostet und gekauft. Doch er brauchte Strohsterne und Kerzen. Die gab es beim Stand an der Ecke.
Als er sich in die lange Warteschlange davor einreihte, trat ein Junge zu ihm. Er war noch keine zehn Jahre alt, trug eine fadenscheinige Jacke und löchrige Schuhe. Sein Kopf war trotz des starken Schneefalls unbedeckt.
Felix kannte die kleinen Bettler, die oft in Banden unterwegs waren und die Polizisten am Markt zur Verzweiflung brachten.
„Hat der gnädige Herr ein paar Groschen für mich?“ Er streckte ihm bittend die offene Hand entgegen.
Es ist Weihnachten, und meine Mutter hat ihre Arbeit verloren. Jetzt sitzen wir am Heiligen Abend im kalten Zimmer. Ohne jede Freude.“ Felix war erstaunt, dass der Bub ihn ansprach. Für gewöhnlich erkannten die kleinen Gauner in ihm den Polizisten. Es war seine Aufgabe, Bettler und Hausierer von der Straße zu vertreiben. Aber irgendetwas an dem Bub war anders. Er rührte Felix.
Waren es die großen dunklen Augen, die ihn daran erinnerten, wie er selbst als Kind ausgesehen hatte? Die höfliche Art, wie er ihn angesprochen hatte? Oder die Tatsache, dass Weihnachten war und da kein Kind, egal, was es schon getan hatte, hungern oder frieren sollte?
Aus einem absolut unvernünftigen Impuls heraus und in der Hoffnung, dass niemand ihn dabei beobachtete, fasste er in seine Jackentasche und holte eine Krone heraus. Er reichte sie dem Burschen, der nun ganz nah bei ihm stand.
Der Bub bedankte sich und flitzte so schnell davon, dass Felix gar nicht mitbekam, wie er in der Menge untertauchte. Eine Frau schrie laut auf: „Der Bub hat Sie eben bestohlen. Laufen Sie ihm nach.“ „Wie bitte?“ Felix drehte sich um, und die Frau gestikulierte wild mit dem Bund Tannenreisig, das sie in der Hand hielt.
„Während Sie ihm eine Münze aus der einen Tasche gegeben haben, hat er Ihnen eine weitere aus der anderen Tasche gezogen. Diese kleinen Gfraster sind so geschickt, dass man es nicht glauben kann.“
Felix langte in seine Tasche und tatsächlich. Es fehlten weitere fünf Kronen. „Soll ich die Polizei für Sie rufen?“, erbot sich die Frau.
„Nein danke. Ich kümmere mich selbst darum!“ Die Vorstellung, dass ein Kollege mitbekam, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen, einem Bettler Geld zu geben, war schrecklich.
Selten hatte Felix sich so dumm gefühlt. Mit einem Mal war ihm die Lust am Einkaufen vergangen. Verärgert blickte er zu Boden, wo eben noch Gankerl gesessen war. Doch sein Hund war weg. Er schaute sich um. „Haben Sie meinen Hund gesehen? Einen grauen Mischling mit Schlappohren und einem blauen Halsband.“ Die Marktstandlerin schüttelte den Kopf und wandte sich an die nächste Kundin. Sie hatte keine Zeit für Männer, die nach Hunden suchten.
Vergessen waren die fünf Kronen. Nervös drängte sich Felix an K.u.K.-Offizieren vorbei, schob eine rothaarige Frau mit greller Schminke zur Seite, die er unter anderen Umständen nach ihrem Gewerbeschein hätte fragen müssen, und nahm aus der Ferne einen Kinderchor wahr, der auf einer provisorischen Bühne O du Fröhliche“ zum Besten gab. Die Angst in ihm wuchs.
Immer schneller und hastiger lief er
an den Ständen vorbei. Doch von Gankerl fehlte jede Spur. Mit einem Mal war jede Vorweihnachtsfreude dahin.“
Wie sollte er Gankerl in der Menschenmenge jemals wiederfinden? Warum war er weggelaufen?
Das sah dem Hund, der ihm für gewöhnlich folgte wie sein Schatten, gar nicht ähnlich. Konnte es sein, dass er beleidigt war, weil Felix ihm keine Wurst gekauft hatte? Sie waren beide ohne Frühstück aus dem Haus gegangen. Felix hatte am Naschmarkt etwas für sie kaufen wollen.
Immer schneller und hastiger lief er an den Ständen vorbei. Doch von Gankerl fehlte jede Spur. Mit einem Mal war jede Vorweihnachtsfreude dahin.
Am Ende der Marktstandreihe blieb er stehen und fasste sich keuchend in die Seite. Er war nicht mehr der Jüngste und hatte in den letzten Jahren deutlich an Bauchumfang zugelegt.
Mit einem Mal war jede Vorweihnachtsfreude dahin
©Illustration: Bartosz Chudy/SoraGerade, als er erneut über den Markt laufen wollte, entdeckte er hinter dem Stand mit den Salzgurken einen Buben, der auf einer Stufe hockte und genüsslich eine Bratwurst aß.
Er war nicht allein. Vor ihm saß Gankerl im Schnee und wurde von ihm gefüttert. Auf jeden Bissen, den der Bub sich in den Mund steckte, kriegte auch Gankerl einen ab.
Felix ging so rasch auf den Bub zu, dass er nicht vor ihm davonlaufen konnte. Das war doch der Dieb, der ihn eben bestohlen hatte? Oder doch nicht?
Der Bub auf der Stufe hatte eine Haube aufgezogen, und seine Jacke war vielleicht nicht ganz so fadenscheinig. Doch auch er hatte dunkle Augen.
„Warst du eben beim Stand mit den Kerzen?“ Felix wusste, dass die Frage sinnlos war. Natürlich würde der Bub nicht zugeben, dass er ihm gerade Geld aus der Tasche stibitzt hatte.
Der Bursche schüttelte den Kopf, und schon war Felix gewillt, ihn mit aufs Revier zu nehmen, um die Wahrheit aus ihm herauszubekommen. Doch da sprang Gankerl an seinem Bein hoch und schleckte sich mit der Zunge übers Maul.
Gut möglich, dass die Wurst in seinem Bauch mit dem gestohlenen Geld bezahlt worden war.
Der Bub nutzte die Gelegenheit, stand auf und schlüpfte zwischen zwei Marktständen hindurch. Noch bevor Felix ihm nachlaufen konnte, war er verschwunden.
Und eigentlich war Felix froh, dass es so war. Er spürte, dass er keine Lust gehabt hätte, den kleinen Dieb, so er denn wirklich der Bub gewesen war, abzuführen.
„Bestimmt liegt’s an Weihnachten“, sagte er zu Gankerl. Und dann machte er sich auf den Weg zu einem der Stände mit den Weihnachtsstollen. Nach all der Aufregung brauchte er selbst eine Stärkung. Gankerl hatte seine schon bekommen.
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