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Das Jahr der Gletscher: Eine Expedition ins endliche Eis

Das Gedächtnis der Welt taut viel zu schnell, auch heuer, im Internationalen Jahr der Gletscher. Was es 2025 über das Archiv der Erde zu wissen gibt: eine Expedition ins endliche Eis.

Von Nicola Afchar-Negad

Sie wirken unerschütterlich, wie stille Autoritäten – und stecken voller Geheimnisse, wie Mikroorganismen aus der Vergangenheit. Gletscher: Jahrtausende altes Eis, das Geschichten der Erde in sich trägt.

Jeder Riss, jede Schicht, jede Blase ist ein winziges Zeitzeugnis. Heuer, im Internationalen Jahr der Gletscher, lohnt es sich besonders, genauer hinzusehen: auf die Giganten, die uns staunen lassen und gleichzeitig zeigen, wie vergänglich alles ist. Aus ewig wird endlich.

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Grenzgebiet zwischen dem chilenischen und argentinischen Teil von Patagonien, 2007

©Sebastião Salgado/Prestel Verlag

Nicht romantisieren

Für Glaziologin Francesca Pellicciotti vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) in Klosterneuburg sind sie "wunderschön". "Es ist das Geräusch, wenn man auf den dort mit Geröll bedeckten Gletschern läuft, es ist der Schnee, der morgens die Zelte bedeckt." Mit "dortigen" meint Pellicciotti Tadschikistan, ein Gebiet, das für sie von großem Interesse ist, da die Gletscher in den Hochgebirgen Asiens oder den Anden in Chile noch weniger erforscht sind als etwa in Europa.

Der ISTA-Professorin sei es aber wichtig, nichts zu "romantisieren". "Es ist eine raue, unwirtliche Umgebung." Diese Relativierung, diese Dualität, steht nicht zufällig gleich zu Beginn dieses Textes.

Wer über Gletscher spricht, wandelt im wahrsten Sinne des Wortes auf dünnem Eis. Sie sind atemberaubend schön, beeindruckend, Wächter der Natur. Aber wir wissen: Es steht schlecht um sie, sie schmelzen, verabschieden sich.

In Island haben Forscher 2019 eine Gedenktafel für den Okjökull angebracht, den ersten Gletscher Islands, der genau diesen Status verloren hat. Auch am Morteratsch-Gletscherwanderweg im Schweizer Engadin sorgen Tafeln und Jahreszahlen für das ein oder andere Seufzen. Man steht auf einem (auch im Winter gespurten) circa sechs Kilometer langen Weg, sieht in der Entfernung die beschneiten Gipfel des drittlängsten Gletschers der Ostalpen und liest, dass er vor wenigen Jahren noch bis zu den eigenen Fußspitzen gereicht hat. Jetzt aber liegt er gefühlt ewig weit weg, die klare Frühwinter-Sicht macht das deutlich.

Das Volumen der Schweizer Gletscher sei 2025 um drei Prozent zurück gegangen, hieß es vor Kurzem. Der viertgrößte Schwund seit 1950. "Rekordschmelze!", prangt häufig als Schlagwort über Meldungen wie dieser – und es gibt mehr als genug Zahlenmaterial für Alarmismus.

Pellicciotti gibt sich damit nicht zufrieden: "Wenn Leute sagen 'Ach, die Gletscher verschwinden sowieso', müssen sie verstehen, dass sie nicht plötzlich verschwinden, sondern schrumpfen.

Wir reden hier von zwei, drei, vielleicht vier Jahrhunderten, selbst wenn wir so weitermachen wie bisher. In dieser Zeit können wir viel erreichen, was unser Verständnis und unser Handeln angeht." Sie ergänzt: "Europa hat zwischen 2000 und 2023 bereits vierzig Prozent seiner Eismassen verloren, aber weltweit gibt es Potenzial. Wir neigen zu einer eurozentrischen Perspektive, unser Kontinent hängt aber viel weniger von den Gletschern ab als andere Regionen." In Asien und Südamerika geht es um Trinkwasser für Millionen von Menschen.

Auf schmelzendem Terrain

"Ich wollte die letzten unberührten Orte der Erde zeigen, um sie zu bewahren." Dieses Zitat stammt vom 2025 verstorbenen Ausnahmefotografen und Umweltaktivisten Sebastião Salgado. Ihm zu Ehren erschien diesen Herbst der Bildband "Gletscher" (Prestel Verlag).

Die Fotos: so schön, dass es fast wehtut. Majestätische Schönheit, zerbrechlich wie Glas. "Wenn wir Tausende von Jahren leben würden, würden wir die Berge verstehen", sinnierte der Brasilianer in einem Interview.

So viel Zeit hat nur eben keiner, aber für Glaziologen ist jedes Foto mehr als ein ästhetisches Statement – es ist ein Forschungsdokument. Sie messen, kartieren, vergleichen, erstellen Modelle, mittlerweile auch mit Hilfe von künstlicher Intelligenz. Es geht um Eisdicke, Schmelzraten, Bewegungen.

Was ihre Daten zeigen, ist ebenso klar wie überraschend. So erstaunte Pellicciottis Forschungsgruppe etwa mit der Erkenntnis um einen temporären Selbstkühlungseffekt, den man bei Gletschern im zentralasiatischen Pamir- und Karakorum-Gebirge beobachtet hat. "Sie erscheinen überraschend stabil und scheinen sogar zu wachsen." Man kann es sich denken, es gibt ein Aber: "Das funktioniert nur so lange bis zu einem Kipppunkt, an dem auch diese letzte Selbstverteidigung der Gletscher versagt."

In Tadschikistan war das bereits der Fall – generell erreicht dieser Kühlungseffekt zwischen 2020 bis 2040 seinen Höhepunkt, danach war’s das. Auch Geoengineering, wie etwa das Abdecken der Gletscher, um Schnee über den Sommer zu retten, ist nur ein Wassertropfen auf dem Gletschereis, sozusagen. "Wir müssen den Trend der steigenden Temperaturen stoppen. Alles andere ist nur die Illusion einer Lösung", findet die gebürtige Italienerin klare Worte.

Also was tun, wenn es um jedes Zehntelgrad geht? "Es kann einem die Augen öffnen, die Natur, die Berge und die Winterlandschaft zu erleben." Der Gedanke: Wir schützen nur, was wir lieben, wir lieben nur, was wir verstehen, und verstehen nur, was wir kennen.

Tipp

Bis 10. Jänner 2027: die Ausstellung "Alpengletscher im Wandel" mit Fotos von Jürgen Merz sowie Dokumentation von Gletscherhöhlen im NHM. abstract-landscape.com

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