Blick vom DJ-Pult auf den Innenraum. Menschen haben die Hände in der Höhe und tanzen, eine Person fotografiert.. Auf einem Leuchtschild steht Techno.

Raven im Café: Warum junge Leute lieber nüchtern feiern

Tanzen, dabei Kuchen essen, Kaffee und Matcha trinken. Solche Partys in Cafés sind auch in Wien gerade schwer angesagt – und vor allem sehr nüchtern.

Draußen blendet das Tageslicht, drinnen rummst der Bass. Es dampft. Was auf den ersten Blick nach einer Afterhour aussieht, entpuppt sich als das genaue Gegenteil, als sogenannte Day Party: Die Menschen sind nicht vom Nachtmarathon gezeichnet, sondern hellwach und erstaunlich fit.

Statt Shots kreisen Cappuccinos, statt Wodka Mate die Matcha-Lattes. Anstelle von Kaugummis gegen die substanzbedingte Kiefersperre beißt man in Croissants. Wo sonst im Halbdunkel der Discokugel getanzt wird, legen DJs unweit der Kaffeemaschine Techno, Trance, House und Ähnliches auf.

Coffee- und Matcha-Raves am Tag

Altgediente Rave-Veteranen mögen da den Kopf schütteln. Für viele Jüngere aber ist es das Aufregendste, was die Partywelt derzeit zu bieten hat: Coffee- und Matcha-Raves, alkoholfrei, oft am Tag – und deshalb so erfolgreich. Weltweit sprießen diese Art von „Day Partys“ aus dem Boden, während klassische Clubs zunehmend ins Straucheln geraten. Gründe dafür gibt es genug: steigende Kosten, die Sehnsucht nach Gemütlichkeit – und ein bewussterer, gesünderer Lebensstil.

Auch in Wien hat das Phänomen längst Wurzeln geschlagen. In den vergangenen Monaten verwandelten sich Cafés, Bäckereien – ja sogar Pizzerien – in Dancefloors. Die meisten dieser Tagesfeten stemmt das Team von Intouch Sound, das sich bewusst von den klassischen Orten der Nachtkultur absetzt. Keine verschwitzten Keller, kein Club-Geruch, keine Fabrikshallen. Stattdessen Cappuccino-Schaum und der Duft von frisch gebackenem Teig.

Eine Getränkekarte auf der Kuchentheke.

Die Getränkekarte beim Rave im Café sieht ein wenig anders aus als im Club: viel Matcha und Kaffee, aber kein Schnaps.

©Zoe Opratko

Genau darin liegt für die Veranstalter der Reiz: „Schon das Setting – Terrassen oder Concept Stores – schafft eine besondere Atmosphäre und lässt dich Teil einer kulturellen Bewegung werden, die einen bewussteren, gesünderen Umgang mit Musik lebt“, erklären Marko Mykhailov, Anna Pazhyvilka, Vasilisa Malakhava der KURIER freizeit. „Für viele Gäste ist es auch die perfekte Art von ‚Afterhour‘: tanzen, auspowern, einen Detox-Smoothie holen – und sich danach gut fühlen statt zerstört.“

Schnaps-Shots sind tabu

Bier und Wein gibt es, doch die meisten greifen zu Kaffee, Matcha und alkoholfreien Drinks. „Wir mögen es, die Grenzen verschwimmen zu lassen: Man kann mit Flat White, Spritzer oder Mineralwasser raven. Nur ist die Balance ganz anders als bei klassischen Partys.“ Shots sind tabu.

Viele sehen die Veranstaltung als ihr Hauptevent des Tages, sagt das Team. Andere treffen danach ihr Schatzi zum Dinner, andere zieht es sogar noch in die Nacht. „Genau das ist das Schöne: Es fügt sich ins Leben ein, statt es komplett durcheinanderzubringen.“

Das wirkt sehr vernünftig, sehr kontrolliert. Aber wie sieht es aus mit dem klassischen Sich-Verlieren – dem kleinen Kontrollverlust, den Nachtschwärmer früher beim Ausgehen kannten? Dieses Fliegen über die Tanzfläche, während andere schlafen, aufstehen oder in die Arbeit gehen? Dieses Nicht-Landen-Wollen, vom Nach-Hause-Gehen ganz zu schweigen?

„‚Sich verlieren‘ passiert bei uns anders – und das Nüchternsein ist kein Limit, sondern ein Teil der Erfahrung.“  

Marko Mykhailov, Anna Pazhyvilka und Vasilisa Malakhava Intouch-Sound-Team

Den Kontrollverlust gebe es bei ihren Veranstaltungen schon auch, meint das Intouch-Sound-Team. Nur anders: „Der Kick kommt genau dann, wenn man zwischen Ruhe und ‚Wow‘ schwebt. Genau dieses Spannungsfeld wollen wir schaffen. Es geht um Intensität, Klarheit und das Gefühl, Teil einer kulturellen Bewegung zu sein. ‚Sich verlieren‘ passiert bei uns anders – und das Nüchternsein ist kein Limit, sondern ein Teil der Erfahrung.“

Abgrenzung zur vorigen Party-Generation

Das ist eine Abgrenzung zur früheren Kultur, stellt Kulturwissenschaftler und Autor Christian Moser-Sollmann fest. „Wenn ich 18 wäre und provozieren wollte, ginge ich auf eine Day Party. Die Leute haben 20 Jahre lang drei Tage wach gemacht – und das war nicht gesund.“ Moser-Sollmann war in den Neunzigern DJ, Veranstalter und Musikjournalist.

 Er promovierte mit einer Studie zur Ästhetik der Popkultur und hat gerade den Roman „Dschungelfieber“ (Milena Verlag)  veröffentlicht, der im Nachtleben der Neunziger spielt.

Am Ende hat er eine Dankesliste an Namen angefügt – einige sind bereits verstorben. „Da haben sich einige zu sehr in der Spur des Feierns verloren. Wenn die jungen Menschen das so machen und älter werden, bin ich dafür“, sagt Moser-Sollmann, dem derartige Tagespartys höchst sympathisch sind.

Junge Frau mit Sonnenbrille hinterm DJ-Pult, sie hat den Arm in der Luft.

 DJ Alexis Hera beim Auflegen auf einer  Party von Intouch Sound im Vogel Kaffee im zweiten Wiener Bezirk. Sie hat offensichtlich viel Spaß dabei.

©Zoe Opratko

Offenbar sehen das einige wie er: Das Publikum bei den Intouch-Sound-Veranstaltungen ist durcheinandergewürfelt, wie das Kollektiv berichtet. „Es ist eine Mischung aus zwei Generationen: Gen Z, die kaum Alkohol trinkt und ständig nach außergewöhnlichen Erfahrungen sucht. Und Millennials, viele davon Ex-Clubber, die früher jedes Wochenende getanzt haben, aber heute keine Nächte mehr durchhalten.“

Keine Lust auf Clubs

Viele hätten schlicht keine Lust mehr auf Schlangen, überteuerte Drinks und das klassische Aufreiß-Setting. „Das Feedback ist klar: Es war nie Alkohol, der Spaß gemacht hat – es war die Musik. Jetzt können sie das wieder erleben – ohne Hangover, ohne Schlafmangel.“

„Raven ist keine Alternative zum Erwerbsleben, sondern Selbstoptimierung.“ 
 

Christian Moser-Sollmann Kulturwissenschaftler und Autor

Das sagt einiges über unsere Zeit aus. Früher brauchte man ein Wochenende, um den Alltagstrott abzuschütteln und die Festplatte zu löschen. Heute soll man sofort danach wieder funktionieren. „Soziologen sprechen von einer Neoliberalisierung des Feierns. Da wird ein Besuch im Berghain zwischen Fitnesstraining und Businessmeeting eingeplant“, sagt Moser-Sollmann. „Raven ist keine Alternative zum Erwerbsleben, sondern eine Selbstoptimierungssache und Teil des Alltags. Gegenkultur und Subkultur gibt es ja nicht mehr.“

Was es hingegen schon lange gebe, sei so ein Tagesformat, nur hieß es halt anders – andere Musik lief auch. „Ich denke da an die klassischen Fünf-Uhr-Tees. Und auch bei den Buddenbrooks fanden Feiern zwischen 17 und 22 Uhr statt“, sagt der Kulturwissenschaftler.

Während ihm das gefällt, stießen die Intouch-Sound-Macher auch auf Skepsis. „Aber insgesamt ist das Feedback sehr positiv. Clubgänger sind überrascht, wie intensiv und gut sich Day-Partys anfühlen. Und Menschen, die normalerweise keine Techno-Clubs betreten würden, entdecken elektronische Musik in einem völlig neuen Kontext – leichter, freundlicher, offener.“

Und da gehört auch das Essen dazu. Kulinarik spielt bei diesen Partys eine große Rolle. Da fragt man sich unweigerlich: Ist das überhaupt noch Clubkultur? „Für uns ist es weiterhin Clubkultur – nur erweitert“, erklärt das Team. „Musik und Essen haben beide mit Geschmack zu tun, mit Teilen und Erleben. Gemeinsam Pizza essen nach dem Tanzen oder während des Sets einen Matcha trinken – das gehört zum Vibe.“ Es sei Nightlife neu gedacht: „Eine Kultur aus Sound, Geschmack und Community.“

Das Schlimmste beim Feiern

Und man sollte nicht zu puristisch sein. Wenn die Besucher Spaß haben, macht man alles richtig. Moser-Sollmann verweist auf seinen Mentor, den legendären Radiojournalisten und DJ Werner Geier. Der habe immer gesagt: „Das Schlimmste auf einer Party sind 90 Prozent Burschen, die nur Auskenner sind und Musikzeitschriften lesen.“

Der Spaß geht weiter, verrät das Intouch-Sound-Team: „Im November findet mehr als nur eine einzelne Coffee- oder Matcha-Party statt – eher ein ganzes Erlebnis, das sich über längere Zeit zieht.“

Christian Moser-Sollmann: Dschungelfieber

Sommer 1996 in Wien. Mao ist gelangweilt. Punk, Indie und überhaupt die ganze Gitarrenmusik ist für den Soziologiestudenten und freien Mitarbeiter bei FM 4  durch.  Techno mit all seinen Begleiterscheinungen auch – zu viel Kommerzialisierung, zu viel Ecstasy. Mit dem neuen Genre Drum &  Bass soll es in der Nacht wieder spannend werden. Gemeinsam mit seinem Freund Smash und anderen gründet Mao eine Party-Schiene, um das lahme Wiener Nachtleben aufzumischen.

Das ist der Rahmen vom Roman „Dschungelfieber“ von Christian Moser-Sollmann (Milena Verlag, 174 Seiten, 25 Euro). Durch ihn weht ein Hauch von Neunziger-Nostalgie. Ein Jahrzehnt so locker, flockig wie das Buch. Doch es ist auch lehrreich. Ein  Leben als professioneller Nachtmensch ist nicht immer lustig.  

Wer nicht dabei war, lernt noch vom Anhang. Hier gibt es einen „Lektüreschlüssel zum Clubkultur-Idiom der Neunziger“ und eine Liste von „15 Jungle und Drum & Bass-Platten für die Ewigkeit“.    

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember 2020 über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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