Noch einmal mit Musik - Wien schreibt Theatergeschichte
Zwei deutsche Regisseure machen Wien zur Hauptstadt eines Theater-Trends: Mit ihren „musikalischen Dramen“ wurden Nils Strunk und Lukas Schrenk zu Publikumslieblingen.
Sie haben es schon wieder gemacht: Nach der „Zauberflöte“, „Killing Carmen“ und der „Schachnovelle“ haben Nils Strunk und Lukas Schrenk nun eine musikalische Version von „Gullivers Reisen“ auf eine Theaterbühne gebracht.
Drei Stunden pure Magie, ganz ohne CGI und grelle Disney-Effekte, dafür mit ganz viel Gefühl – und Musik. Natürlich, möchte man fast sagen. Denn in den vergangenen zwei Jahren wurden Schrenk/Strunk tatsächlich zu einer Art Lennon/McCartney der deutschsprachigen Theaterbühnen.
Mit traumwandlerischer Sicherheit schreiben sie Klassiker um, versetzen sie in stimmigster Weise ins 21. Jahrhundert – oder schreiben komplett neue Musik für Stoffe, die sie auf die Bühne bringen. Ist das jetzt Musical? Ist es zeitgenössische Oper? Operette? Vielleicht ja ganz einfach Musiktheater im wahrsten Sinn des Wortes.
Die freizeit war nicht nur bei einer umjubelten Aufführung im Burgtheater dabei, sondern auch Zaungast bei den Proben, die davor stattfanden.
Der höchst charismatische Markus Meyer spielt den König von Liliput. Unter anderem ...
©tommy hetzelWas sofort auffiel: der Eifer und auch die reine Spielfreude, mit der alle Beteiligten bei der Sache sind. Den Sound dazu liefern Musiker, die sich wie das Who-is-Who der österreichischen Indie- und Jazz-Szene lesen.
Fürs Sounddesign ist Alexander Nefzger zuständig, der als Produzent für Mika-Vember- und Kommando-Elefant-Alben verantwortlich war. Die Gitarre würgt Bernhard Moshammer, als Börn ein musikalischer Household-Name. An den Keyboards sitzt mit Alexander Xidi Christof das Mastermind der erfolgreichen Band Granada, und für die Electronics ist Hans Wagner zuständig, der die Kritiker mit seinen Bands Das Trojanische Pferd und Neuschnee begeisterte.
Und wenn Nils Strunk einen „Rimshot auf der Snare“ einfordert, bekommt er den von keinem Geringeren als Jörg Mikula serviert, der praktisch bei sämtlichen relevanten Jazz-, World- und Rock-Produktionen der letzten zwei Jahrzehnte am Zeugl saß.
Backstage nach der Probe: Hans Wagner, Gunther Eckes, Lukas Schrenk, Nils Strunk, Alexander Xidi Christof (von li.)
©kurier/Martina BergerSchlummernde Talente
So tänzelt Burgschauspieler Stefko Hanushevsky im Stil eines veritablen US-Entertainers fingerschnippend über einen musikalischen Teppich, der seinesgleichen sucht. Und zeigt dabei überraschend elegante Moves, während man sich Lola Klamroth und Rebecca Lindauer, seine renommierten Kolleginnen im altehrwürdigen Schauspiel-Tempel, jederzeit in einer durchtanzten Nacht im Berliner Berghain vorstellen könnte.
Gunther „Gulliver“ Eckes wiederum hat sein Talent zum lyrischen Tenor ja schon als Tamino in der „Zauberflöte“ gezeigt. Wer hätte gedacht, dass derart geballte Musikalität in unseren Burgschauspielern steckt?
„Ich glaube, in Schauspielschulen bekommen die Studenten ja auch Gesangsunterricht, oder?“, mutmaßt Hans Wagner und erntet dafür ein verschmitztes Lächeln von Gunther Eckes. „Wir sind ja Schauspieler. Wir können ganz gut so tun, als hätten wir eine profunde Tanz- und Gesangsausbildung“, sagt er schließlich mit einem Augenzwinkern.
Und natürlich wird niemand aus dem Burgtheater-Ensemble gezwungen, nun auch noch den Schritt zum Sänger und Tänzer zu wagen.
Stefko Hanushevsky, Lola Klamroth und Dietmar König als Hofstaat des Königs von Liliput
©tommy hetzel„Wenn Kollegen im Ensemble sind, die sagen, Ich kann das nicht, wird darauf natürlich Rücksicht genommen“, erklärt Eckes, während Alexander Xidi Christof weiter ausführt: „Beim Schreiben kann ja auch auf die Talente des Schauspielers eingegangen werden. Also entweder geht der Komponist dann in Richtung Sprechgesang – oder große Melodie.“
Eckes: „Nils und ich kennen uns bereits eine kleine Ewigkeit. Er weiß schon ganz genau, was er mir auf die Stimmbänder schreiben kann.“
Dietmar König und Lola Klamroth als König und Königin der Riesen
©tommy hetzelViel mehr als nur Liliput
Was Nils Strunk und sein kongenialer Partner Lukas Schrenk ebenfalls ganz genau wussten, war, dass sie Jonathan Swifts 1726 erschienenes Werk nicht auf die oft übliche lustige Erzählung eines Seefahrers, der auf einer Insel mit putzigen, fingergroßen Menschen strandet, reduzieren wollten.
Denn erstens ist diese Episode nur knapp ein Viertel der kompletten Story. Und zweitens wurde auch die schon zu Swifts Lebzeiten „entschärft“, wie zeitgenössische Kritiker anmerkten, und in ein Kinderbuch „für einfache Gemüter“ verwandelt. Denn in Wahrheit war das Werk eine beißende politische Satire.
Und so zeigt sich keiner der Monarchen in den unterschiedlichsten Reichen, die Gulliver bereist, in irgendeiner Form beeindruckt von den Errungenschaften seiner englischen Heimat, von denen er so eifrig erzählt. Im Gegenteil, Gulliver selbst bleiben die Geschichten all der Kriege, Morde, Intrigen, Bestrafungen, der Misswirtschaft und Ausbeutung beinahe im Hals stecken.
In seiner Reaktion darauf bringt es der König der Riesen auf den Punkt: „Ich muss feststellen, dass ein Großteil Eurer Eingeborenen die verderblichste Rasse von widerlichem kleinen Gewürm ist, die die Natur je auf der Oberfläche der Erde erleiden musste.“
Rebecca Lindauer und Annamária Láng als Wissenschaftler
©tommy hetzelDie beiden Regisseure, Autoren und Komponisten stemmen also alle vier Reisen des britischen Arztes Lemuel Gulliver – UND integrieren Swifts so intelligente wie teils auch derbe Stilmittel, mit denen er der Welt einen Spiegel vorhält, indem er immer wieder die Perspektive wechselt.
So gelingt es tatsächlich, hier das viel beschworene „Theater für alle“ zu machen, die kritischen und nachdenklichen Stellen derart ins Stück zu integrieren, dass es für Erwachsene eine hohe Relevanz erhält – ohne die Kinder abzuschrecken.
Das Zaubermittel dafür ist die Musik. Gehen Schrenk/ Strunk da ähnlich ran wie einst Lennon/McCartney? „Manchmal ist nur ein Text da und Nils findet die Melodie. Manchmal ist eine Melodie da und ich mache den Text“, sagt Lukas Schrenk. „Wobei es so ist, dass sich beide Seiten beeinflussen. Handelt es sich um einen Rap-Text von Lukas, gibt der rhythmisch die Linie vor. Wie etwa der über einen Krieg wegen der unterschiedlichen Auffassungen, wie ein Frühstücksei aufzuschlagen ist“, erklärt Nils Strunk genauer.
Gunther Eckes als Gulliver auf der Insel der Pferde
©tommy hetzelSchrenk: „Und manche Textzeile trägt einfach schon eine Melodie in sich. Hin und wieder entsteht auch alles gleichzeitig – das ist am allerschönsten. Die Pferde-Hymne am Ende von Gullivers Reisen war so ein spezieller Fall, an dem das passiert ist.“
Und genau diese Momente machen einen wunderschönen Abend zu einem magischen.
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