Young Adult Asian Woman Testifying in Courtroom during Legal Proceedings

Recht kompliziert: Schützt das Gesetz nur die Täter?

Zwei Anwälte, zwei Ansichten, eine Rechtslage: Das Wiener Duo erzählt Geschichten aus seiner Ehe, beantwortet Fragen, die uns im Alltag beschäftigen, erklärt, was vor Gericht zählt – und wie er oder sie die Causa sehen.

Von Mag. Carmen Thornton & Mag. Johannes Kautz

Der Fall: Mit einem überraschenden Freispruch endete am Dienstag der Prozess gegen einen Mann, dessen sechsjährige Stieftochter bei einer Polizeikontrolle das SOS-Zeichen gab. Die Beweislage schien erdrückend, doch in der Verhandlung machten sowohl die Lebensgefährtin als auch die Stieftochter von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Da ihre polizeilichen Einvernahmen vom Gericht nicht verwertet werden konnten, musste die Richterin den Angeklagten trotz „absolut unglaubwürdiger“ Schilderungen freisprechen. Wieder einmal sorgt ein Gerichtsurteil – aus menschlich nachvollziehbaren Gründen – für mediales Aufsehen und Empörung. Wenn eine Richterin – offensichtlich mit viel Bauchweh und gegen die eigene Überzeugung – einen Freispruch fällen muss, weil ihr die Rechtslage keine andere Wahl ließ, stellt sich die Frage, ob die Waage zwischen rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Schutz der Opfer noch richtig geeicht ist. 

Sie:

Der geschilderte Fall zeigt in bedrückender Deutlichkeit, wie vielschichtig Gewaltbeziehungen sind und wie schwer es für Betroffene ist, sich aus der Gewaltspirale zu lösen. Sowohl die Mutter als auch die sechsjährige Tochter hatten vermutlich panische Angst – sonst hätten sie kaum die Aussage verweigert. Auch ein zentrales Opferschutzinstrument, die psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren, konnte hier offensichtlich nicht die nötige Sicherheit vermitteln. 

Allerdings ist zu bedenken: Für viele Gewaltbetroffene ist eine strafrechtliche Verurteilung nicht das oberste Ziel. Wenn keine Haftstrafe droht, überwiegt häufig die Angst vor Vergeltung. Geldstrafen oder bedingte Haftstrafen bringen nicht das, was sich Betroffene wünschen: Ruhe, Sicherheit und ein Ende der ständigen Angst. 

Diese Ziele lassen sich oft effektiver durch zivilrechtliche Maßnahmen erreichen. Während im Strafverfahren im Zweifel freizusprechen ist, reicht bei einstweiligen Verfügungen bereits die glaubhafte Bescheinigung einer Gefährdung. Wegweisung, Kontakt- und Annäherungsverbote sowie deren polizeiliche Kontrolle bieten Opfern häufig realen Schutz.

Wegweisung und Waffenverbot

Mit einer polizeilichen Anordnung kann dem Gefährder bei einem drohenden Angriff verboten werden, sich der gefährdeten Person zu nähern und ihre Wohnung zu betreten, unabhängig davon, wem diese Wohnung gehört. Das Verbot gilt für zwei Wochen und verlängert sich auf höchstens vier Wochen, wenn in dieser Zeit eine einstweilige Verfügung beantragt wird. Mit der Wegweisung ist automatisch ein Waffenverbot verbunden. Außerdem muss der Gefährder an einer sechsstündigen Gewaltpräventionsberatung teilnehmen. Täterarbeit ist gut und wichtig, denn selbst die härteste Strafe macht die Tat nicht ungeschehen. Wenn Täter aber an sich arbeiten, besteht die Chance, dass weitere Vorfälle verhindert werden. Doch ein paar Stunden Anti-Gewalttraining reichen nicht aus, um tief verankerte Gewaltmuster nachhaltig zu verändern, vor allem, wenn beim Täter die nötige Einsicht fehlt. Daher sollte die Möglichkeit eingeführt werden, dass in schwerwiegenden Fällen auch eine dauerhafte Gewalttherapie angeordnet werden kann.

Eine Frau im roten Kleid lehnt an einer Wand in einem Bürogebäude.

Carmen Thornton ist Rechtsanwältin in Wien.

©Thornton & Kautz Rechtsanwälte

Wann immer ein polizeiliches Betretungsverbot verhängt wird und minderjährige Kinder gefährdet sind, ist außerdem die Kinder- und Jugendhilfe einzuschalten. Das ist ein wichtiger Schritt. Denn Elternteile, die selbst Opfer von häuslicher Gewalt sind, können oft die Kinder nicht ausreichend schützen. So hart es klingt: Wer ein Kind, das sich selbst Hilfe gesucht hat, später dazu bringt, die Aussage zu verweigern, nimmt dessen Interessen nicht ausreichend wahr. Das Kindeswohl verlangt hier klare Kontaktverbote.

Kontaktverbot schützt Kinder

Wenn die Eltern getrennt sind, kann der andere obsorgeberechtigte Elternteil eine einstweilige Verfügung beantragen, um Kontakte zwischen Kind und Gewalttäter zu verhindern. Andernfalls müssen Weisungen oder Einschränkungen der Obsorge geprüft werden – nicht als Strafe, sondern als Schutz für das Kind. So könnte eine verpflichtende psychologische Begleitung des Kindes sicherstellen, dass das Kind über erfahrene Traumata sprechen kann und zukünftige Gefährdungen besser erkennbar sind. Die Gesetze bieten also sehr gute Schutzinstrumente. Entscheidend ist, dass sie rechtzeitig, konsequent und wirksam angewendet werden – bevor aus Eskalation endgültige Tragödien werden.

Er:

In Österreich gilt sowohl im Zivil- als auch im Strafprozess der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Richter sollen die Beweise nach ihrer persönlichen Überzeugung bewerten, ohne an strenge Beweisregeln gebunden zu sein. Ein schriftlicher Nachweis ist nicht automatisch mehr wert als eine Zeugenaussage. Die Aussagen von unbeteiligten Zeugen oder dem Opfer sind nicht unbedingt höher zu gewichten als die einer Partei oder des Angeklagten. Es zählt auch nicht die Anzahl der Beweismittel, sondern die Qualität. Und im Strafrecht muss ein Schuldspruch nicht zwingend auf ein Geständnis  oder einen Zeugenbeweis gestützt sein. Es genügt die Überzeugung, dass der Angeklagte die Tat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit begangen hat. Um willkürliche Entscheidungen zu verhindern, muss das Gericht seine Beweiswürdigung allerdings nachvollziehbar begründen und alle wesentlichen Beweisergebnisse berücksichtigen. Die Bekämpfung der Beweiswürdigung ist nur sehr eingeschränkt möglich. 

Der Grundsatz, dass Gerichte nicht sehenden Auges eine unrichtige Entscheidung fällen sollen, hat einen so hohen Stellenwert, dass selbst rechtswidrig erlangte Beweise verwertet werden dürfen. Beweisverwertungsverbote gibt es nur in Ausnahmefällen.

Wahrheitsfindung vs. Verfahrensrechte

Doch wenn die Wahrheitsfindung an erster Stelle steht, wie kann es da zu einem Freispruch kommen, obwohl das Gericht offensichtlich von der Schuld des Angeklagten überzeugt war? Warum dürfen heimliche Tonbandmitschnitte oder Beweise, die bei einer rechtswidrigen Hausdurchsuchung sichergestellt wurden, verwertet werden, aber eine Aussage unter Wahrheitspflicht bei der polizeilichen Einvernahme nicht?

Ein Mann im Anzug lehnt an einer Wand in einem Bürogebäude.

Johannes Kautz ist Rechtsanwalt in Wien.

©Thornton & Kautz Rechtsanwälte

Der Grund dafür ist, dass im Strafverfahren nur das berücksichtigt werden darf, was in der Hauptverhandlung vorgekommen ist. Auch die Protokolle von Einvernahmen im Ermittlungsverfahren müssen daher in der Verhandlung noch einmal verlesen oder zumindest zusammenfassend vorgetragen werden. Und wenn das Opfer die Aussage berechtigt verweigert, erlaubt das Gesetz nur eine Verlesung von Protokollen einer gerichtlichen Einvernahme, an der sich auch der Angeklagte beteiligen konnte. Bei der polizeilichen Vernehmung ist das nicht der Fall. Ähnliches gilt im Zivilverfahren- Hier sind Protokolle zwar zulässige Beweismittel, das Aussageverweigerungsrecht eines Zeugen darf aber nicht dadurch umgangen werden, dass ohne Zustimmung beider Parteien die Aussagen in einem früheren gerichtlichen Verfahren verwertet werden.

Bei häuslicher Gewalt nachschärfen

Der Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit garantiert ein faires Verfahren und darf daher nicht leichtfertig aufgegeben werden. Auch mutmaßliche Straftäter müssen die Möglichkeit haben, sich zu belastenden Aussagen zu äußern und Fragen zu stellen. Ein Strafverfahren ist kein Inquisitionsprozess. 

Die Schattenseite ist allerdings, dass es zu einem Freispruch kommen kann, nur weil eine eingeschüchterte Mutter und ihr verängstigtes Kind trotz psychologischer Unterstützung vor Gericht nicht mehr aussagen möchten. Das ist in einem Rechtsstaat nur schwer zu akzeptieren. Vor allem bei Fällen häuslicher Gewalt und erst recht bei minderjährigen Kindern könnte der Gesetzgeber durchaus nachschärfen, ohne gleich fundamentale Verfahrensgrundsätze über den Haufen zu werfen. Denn auch die Gründe des Opfers, die Aussage zu verweigern, können im Rahmen der freien Beweiswürdigung angemessen berücksichtigt werden. 

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