Zusammen ist es schöner

Das "Wohnprojekt Wien" am Nordbahnhof-Gelände mit einigen seiner Bewohner.
Modernes Dorfleben: Miteinander bauen und wohnen war noch nie so beliebt wie heute. Die neuesten gemeinschaftlichen Wohnprojekte und ein Erfahrungsbericht.

Selbst ein Haus zu bauen, ist eines der schönsten Ereignisse im Leben. Und eines der anstrengendsten. Erst recht, wenn das Haus für mehrere Familien gedacht ist. So wie bei Michael Kerbler. Der bekannte Journalist hat sich vor gut drei Jahren mit 43 Erwachsenen zusammengetan und plant seitdem mit seinen künftigen Nachbarn ein mehrstöckiges Gebäude nahe dem Wiener Hauptbahnhof. "Gleis 21" nennt sich die Gruppe. Vor ein paar Wochen begannen die Bauarbeiten. "Das Gemeinschaftswohnprojekt verschlingt einen großen Teil meiner Freizeit", sagt Kerbler.

Große Nachfrage nach gemeinschaftlichen Wohnformen

Termine auf der Baustelle, Verhandlungen mit Banken und Wohnungsvergaben – all das, was normalerweise professionelle Wohnbaugesellschaften erledigen, stellen die "Gleisler" selbst auf die Beine. Drängt sich die Frage auf: Warum tun Menschen das, wenn es viel einfachere Wege zu einer eigenen Wohnung gibt? In Wien gibt es derzeit rund 20 sogenannte Baugruppen, die in Eigenregie und nach ihrem Geschmack ein Haus planen und bauen – so viele, wie noch nie. Obwohl die Gruppenmitglieder viel Zeit und Energie in ihre Häuser investieren müssen, reißt die Nachfrage nicht ab.

Vor allem in den Neubaugebieten rund um den Wiener Hauptbahnhof, der Seestadt Aspern oder am Nordbahnhof sprießen gemeinschaftliche Wohnhäuser aus dem Boden. Dazu kommen etliche Initiativen in den Bundesländern. Rechtlich sind die Projekte oft Gemeinschaftseigentum in Form eines Vereins, der an seine Mitglieder Wohnungen vermietet. Allerdings gibt es auch Baugruppen, die Einzeleigentum an ihren Wohnungen begründen. Die Anzahl der Bewohner variiert je nach Projekt – von einer Handvoll Menschen bis hin zu 200.

"Den Gruppen geht es um Selbstbestimmung und Gemeinschaft", so Robert Temel.

In Deutschland ist dieser Trend noch weiter: In den Stadtentwicklungsgebieten von München und Hamburg werden bis zu 40 Prozent der Flächen an Baugruppen vergeben. "Den Gruppen geht es um Selbstbestimmung und Gemeinschaft", so Robert Temel von der Initiative für gemeinschaftliches Bauen und Wohnen.

Bei den "Gleislern" vom Hauptbahnhof durfte jeder seine eigene Wohnung planen. Dazu gibt es großzügige Gemeinschafts- und Gartenflächen, die jedem Bewohner Flexibilität und Freiraum ermöglichen. Doch im "Gleis 21" geht es um mehr, als bloß schön zu wohnen: "Wir sind eine sehr gemischte Gruppe aus Jungen und Älteren. Wir wollen zusammenhalten, füreinander da sein und gleichzeitig Rücksicht auf unsere Umgebung und die Umwelt nehmen", sagt Kerbler.

Revival der Nachbarschaft

Die Nachbarschaft, jene scheinbar unnütz gewordene Zwangsgemeinschaft Tür an Tür, feiert überhaupt ein Revival. In Zeiten, in denen die Mobilität jedes Einzelnen steigt und die meisten Menschen nicht am gleichen Ort mit ihrer nahen Familie wie Eltern oder erwachsene Kinder wohnen, bekommt das nahe soziale Umfeld wieder mehr Bedeutung. Wer, wenn nicht der Nachbar, ist bei Krankheit oder Notfällen schnell zur Stelle? Nicht umsonst boomen online Nachbarschafts-Plattformen wie nebenan.de oder nachbarschaftliche Facebook-Gruppen. "Die Sehnsucht nach einem guten sozialen Umfeld ist sicher eine der Triebfedern von Baugruppen", sagt Markus Zilker von einszueins Architektur, der derzeit mehrere Gruppen betreut.

Beim Bauen kommen die Leut’ z’amm lautet demnach das Motto. Auch Rudolf Pilat hat seine Nachbarn schon vor dem Einzug kennengelernt. Die vielen Stunden auf der Baustelle – mit der Hilti haben sie Löcher gebohrt und Putz abgetragen – haben die Bewohner zusammengeschweißt. Gemeinsam mit dem bekannten Linzer Architekten Fritz Matzinger hat die Gruppe einen 550 Jahre alten und stark verfallenen Gutshof nahe Steyr in Oberösterreich wieder zum Leben erweckt. 20 Wohneinheiten samt Pool im überdachten Innenbereich sind im Vierkanthof entstanden. Das Projekt nennt sich "Mayr in der Wim". "Durch die Eigenleistung am Bau konnten wir Kosten sparen. Unser Ziel war immer, dass die Mietkosten sozial verträglich sind. Das haben wir geschafft."

Die Bruttomiete im "Mayr in der Wim" liegt bei monatlich 7,40 Euro pro Quadratmeter. Generell sind in den meisten Wohnprojekten die Mietpreise im Vergleich zum frei finanzierten Bereich moderat. Weil viele mit Wohnbauförderung bauen, müssen die Mieten ohnehin gedeckelt sein. Vor allem langfristig bleiben die Kosten niedrig, da die Bewohner selbst über die Mieten bestimmen können. Ein Beispiel ist etwa die Sargfabrik Wien, das bekannteste Wohnprojekt Österreichs, das 1996 bezogen wurde. Wenn von gemeinschaftlichen Wohnformen die Rede ist, dann weckt das Assoziationen mit klassischen Kommunen: Freie Liebe, strenge Ideologien, vor allem nächtelange Diskussionen und Streiterein. Doch die Wohnprojekte von heute haben nur mehr wenig mit denen von früher zu tun. Mit einer Ausnahme: Zu besprechen gibt es nach wie vor viel.

Neue Werkeuge für Gruppenprozesse

Wenn man bedenkt, dass beim Bau eines Einfamilienhauses rund 40.000 Entscheidungen anfallen, ergibt sich für die Planung eines mehrstöckigen Gebäudes eine Unzahl an Beschlüssen, die in der Gruppe gefasst werden müssen. "Es gibt heute aber eine ganze Palette an organisatorischen und gruppenspezifischen Werkzeugen, die Baugruppen in die Lage versetzen, zeit- und energiesparend ihre Projekte voranzutreiben", sagt Heinz Feldmann.

Feldmann gründete 2009 das "Wohnprojekt Wien" am Wiener Nordbahnhof-Gelände. Das Haus ist, wenn man so will, das erste Wohnprojekt der jüngeren Generation und wurde 2014 mit dem Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Um seine Erfahrungen mit gemeinschaftlichen Bauprozessen weiterzugeben, hat Heinz Feldmann mit zehn anderen Baugruppen-Profis die Wohnbaugenossenschaft "Die WoGen" gegründet, die ausschließlich Gemeinschaftsprojekte baut.

Eine Organisationsmethode, mit der auch Feldmann beste Erfahrungen gemacht hat, ist beispielsweise die Soziokratie. Die aus den Niederlanden stammende Organisationsform baut auf Arbeitsgruppen, die relativ autonom Entscheidungen treffen können. Das bedeutet, dass nicht die gesamte Gruppe für jede Kleinigkeit abstimmen muss, sondern nur ein paar wenige. Das geht schneller und schafft klare Strukturen. Und gerade Strukturen sind wichtig, um Konflikte zu vermeiden.

Das wissen auch die Bewohner vom "Seestern" in der Seestadt Aspern. 40 Erwachsene mit elf Kindern wohnen seit mehr als zwei Jahren in ihrem Haus und haben sich ebenfalls soziokratisch organisiert. Denn die Arbeit ist auch nach dem Einzug nicht unbedingt weniger geworden. Wie viele andere Baugruppen, ist auch der "Seestern" selbstverwaltet. Mieten müssen eingehoben und Reparaturen beauftragt werden. Nur die Hausreinigung wurde an eine externe Firma ausgelagert. "Jeder hat ein anderes Sauberkeitsgefühl. Beim Putzen würde es nur zu Streit kommen", so Bewohnerin Andrea Prantl. Und streiten, das will doch niemand, oder?

Ausstellung "Daheim – Bauen und Wohnen in Gemeinschaft", bis 23. 3. 2018, www.initiativearchitektur.at

KURIER-Redakteurin Barbara Nothegger über ihre persönlichen Erfahrungen im "Wohnprojekt Wien" am Nordbahnhof-Gelände.

Bevor ich mit meinem Mann und den zwei Kindern vor vier Jahren in das „Wohnprojekt Wien“ am Nordbahnhof einzog, hatte ich keine Ahnung, wie sehr eine schön blühende Orchidee die Gemüter erhitzen kann. Zugegeben, die Blume wurde zerstört – mutmaßlich von Kindern. Wer es tatsächlich war, weiß bis heute keiner genau. Und im Laufe der „Orchideen-Affäre“, wie wir die Episode im Rückblick belustigend nennen, war es auch egal. Es wurde über Wochen nur mehr hitzig diskutiert, was Kinder im Haus dürfen – oder eben nicht.
Wer in ein gemeinschaftliches Wohnprojekt zieht, muss wissen, dass man in derartigen Häusern mehr mit seinen Nachbarn zu tun hat, als in konventionellen Wohnbauten. Und man muss sich ehrlich die Frage stellen: Will ich das?
Ich wollte es. Trotz Orchideen-Affäre, die mir auf die Nerven ging, bereue ich es bis heute nicht. Es ist zwar anders, als ich erwartet hatte. Weniger das Wir-haben-uns-alle-lieb-Gefühl. Es ist mehr ein ständiges Dazulernen im Umgang mit anderen. Das ist gut.

Zusammen ist es schöner
Barbara Nothegger

Ich bin jedenfalls immer wieder verblüfft, welches Interesse unser Haus weckt. Im Schnitt gibt es eine Führung pro Woche für externe Personen, die aus aller Welt zu uns pilgern. Die Besucher bewundern die offenen Treppenhäuser, wo die Kinder mit ihren Rollern herumtoben. Sie bestaunen die vielen Werkzeuge in der Werkstatt, die sich jeder ausborgen kann und nicken anerkennend, wenn die Bewohner von der üppigen Ernte aus dem Garten berichten. „Wow, tolle Architektur“, heißt es dann. Und meistens folgt der Nachsatz: „Aber wie hält man diese Gemeinschaft bloß aus?“
Auf diese Frage gibt es eine einfache Antwort: Die Bewohner lassen ihre Wohnungstüre einfach zu, wenn es zu viel ist. In der eigenen Wohnung hört und sieht man nichts von den Nachbarn. Im „Wohnprojekt Wien“, so wie auch in den meisten anderen Baugruppen, wird die Gemeinschaft als Möglichkeit und nicht als Zwang verstanden.
Doch klar ist auch: Ohne die Gemeinschaft wäre das Haus nicht so wunderbar geworden, wie es ist. Wenn Bewohner selbst ihr Wohnumfeld gestalten, kommt etwas anderes heraus, als wenn es eine Wohnbaugesellschaft plant. Und das Herzstück des Hauses sieht man bei den Führungen nicht einmal: es ist die „soziale Infrastruktur“. Es sind die vielen kleinen Hilfen im Alltag. Etwa bei der Kinderbetreuung oder wenn jemand krank ist. Es ist auch das Gefühl des Aufgehoben-Seins. Wie bei einer großen Verwandtschaft oder einem kleinen Dorf: Man versteht sich vielleicht nicht mit allen gleich gut, mit manchen gab es möglicherweise Streit. Aber irgendwie gehört man doch zusammen. Und wenn es darauf ankommt, kann man sich aufeinander verlassen.

Buchtipp

Barbara Nothegger: "Sieben Stock Dorf. Wohnexperimente für eine bessere Zunkunft" (Residenz, 2017).

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