Wo man den Ärmsten auf den Zahn fühlt

Mehr als 1200 Zahnpatienten werden jährlich vom "neunerhaus" versorgt
In der Zahnarztpraxis vom "neunerhaus" werden wohnungslose Menschen behandelt.
Von Uwe Mauch

Nach 9 Uhr in einer Einrichtung der Wiener Hilfsorganisation neunerhaus in der Margaretenstraße 166: Gleich mehrere Menschen schleppen sich hier auf dem Zahnfleisch in den ersten Stock hinauf. Zur Zahnärztlichen Ambulanz für jene, die vor allem an Armut leiden.

Viele waren als Kind zum letzten Mal beim Zahnarzt. Heute ist es ihr akuter Schmerz, der sie nicht umkehren lässt. "Es ist ein Amalgam aus Armutssymptomen, das ihre Zähne über die Jahre kaputt gehen ließ", weiß die Sozialarbeiterin Barbara Berner, die strategisch perfekt am Empfang sitzt und alle Neuankömmlinge freundlich willkommen heißt.

Wo man den Ärmsten auf den Zahn fühlt
Neunerhaus Zahnambulanz
Ihr Lächeln bringt auch den jungen Punk dazu, seinen Mund aufmachen. Es fällt ihm nicht leicht, über sich und vor allem über seinen Schmerz zu sprechen. Hier traut er sich. Die Sozialarbeiterin erhält tiefe Einblicke in die Seelen der Menschen, die ihren Biss verloren haben. Sie fürchten nicht nur das Surren und Rattern der Bohrer, sie haben auch Angst vor bohrenden Fragen. Warum kommen Sie erst jetzt? Genieren Sie sich nicht? Alles schon gehört.

Sie haben nicht zuletzt Angst, beim Sanieren ihrer Zähne finanziell auszubluten. Auffallend viele wissen nicht, dass sie versichert sind. Andere wiederum besitzen tatsächlich keine ecard.

Zum Reden motivieren

Mit ihrer Kollegin Lilibeth Dabu gelingt es Barbara Berner, die Patienten zum Reden zu motivieren: Eine junge Frau erzählt, dass sich eine Ärztin weigerte, ihre dicke Backe zu röntgen. "Nicht einmal ein Schmerzmittel wollte sie mir verschreiben." Ein junger Mann erzählt, dass eine Ärztin seine ecard nur mit einem Taschentuch angreifen wollte. Wie wohl tut es da, dass man es hinter diesem Schalter gut mit ihr meint!

An vier Tagen pro Woche hat die Ambulanz offen. Mehr als 1200 Patienten werden pro Jahr versorgt, Tendenz steigend. Es fällt auf, wie geduldig die Menschen im Wartezimmer darauf warten, bis ihr Name aufgerufen wird.

"Ein bisserl schlafen"

Als einer in der warmen Stube einschläft und schon bald laut zu schnarchen beginnt, fragt sich die Sozialarbeiterin, ob sie ihn wecken soll, er könnte ja die anderen stören. Doch da deuten schon zwei Jüngere, dass sie ihn schnarchen lassen soll. "Der ist sicher froh, dass er hier ein bisserl schlafen kann."

Wo man den Ärmsten auf den Zahn fühlt
Rund vierzig Zahnärzte teilen sich den Dienst im Behandlungsraum, alle helfen freiwillig. Ein Knochenjob! Selten wird hier ein kleines Loch gebohrt, viel öfter ganze Zahnruinen gezogen. Statt der gezogenen Zähne gibt es keine Implantate aus Titan, sondern preisgünstigere Prothesen aus Kunststoff. Doch besser eine Prothese als gar keine Kauwerkzeuge mehr.

Ein hoher Preis

Eine adrett gekleidete Frau erzählt, dass sie eigentlich auch obdachlos wäre. Wenn sie nicht ein Bekannter in seiner Wohnung übernachten ließe. Der Preis dafür ist hoch: Sie muss sich regelmäßig zu dem Mann, den sie nicht liebt, ins Bett legen.

Auch ihre Freundin hält sich trotz einer ähnlich prekären Beziehung und einem feuchten Loch in einem Abbruchhaus von den Notschlafstellen der Stadt fern. Sie sagt, dass sie Angst hat, dass man ihr dann ihren Sohn wegnimmt. Armut in Österreich hat heute viele Gesichter. Auch deshalb, weil man schneller außer Tritt kommt als früher und auch schwer wieder den Anschluss findet.

neunerhaus:

Neben den drei Wohnhäusern in Wien und den 60 Wohnungen, die wohnungslosen Menschen Unterkunft und Unterstützung durch Sozialarbeiter bieten, betreibt das „neunerhaus“ 17 allgemeinmedizinische Arztpraxen in seinen Häusern sowie eine Arzt-, Zahnarzt- und eine Tierarzt-Praxis in der Zentrale in Margareten. Wird durch Förderungen der Stadt Wien, der Gebietskrankenkasse sowie Spenden finanziert, und nicht zuletzt durch ehrenamtliche Mitarbeit betrieben.

Wien 5, Margaretenstraße 166
01 / 990 09 09 900
www.neunerhaus.at

AmberMed:

Ambulanz für Menschen, die nicht krankenversichert sind und akut medizinische Betreuung benötigen. Wurde von der Diakonie und dem Roten Kreuz eingerichtet. Wird zum großen Teil durch Spenden und öffentliche Mittel finanziert, kann aber nur dank der vielen ehrenamtlichen Helfer am Leben gehalten werden.


Wien 23, Oberlaaer Straße 300
01 / 589 00 847
www.amber-med.at

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