Wie eine Frau erstmals den Ärmelkanal bezwang

Vor 90 Jahren gelang Gertrude Ederle eine gewaltige Pionierleistung.

Nicht einmal die toten Haie, die Fischer aus dem Küstenbereich gezogen hatten, konnten sie abschrecken. Eher noch die Kälte des Wassers und die Wellen, die wie aus dem Nichts auftauchten. Getrude Ederle, ein 19-jähriges US-Girl mit Kurzhaar-Frisur, schüchternem Lächeln und breiten Schultern steht am Strand von Cap Gris-Nez vor ihrem größten Abenteuer: Sie will von Frankreich nach England schwimmen.

Die Zeit von Rekordjägern

Es ist die Zeit von Rekordjägern und Pionieren. 1927 überquert Charles Lindbergh mit seinem Flieger nonstop den Atlantik. Forscher der Royal Geographical Society sind auf dem Weg zum Mount Everest. Für Langstreckenschwimmer ist es der Ärmelkanal, den es zu bezwingen gilt. "Ich wollte beweisen, dass es auch eine Frau schaffen kann", schrieb Trudy Ederle später in einem Brief.

Olivenöl, Fett und Wolle sollen sie gegen die eisigen Fluten schützen. Ihr Vater, Henry, der eigentlich Heinrich heißt, reibt sie am Morgen des 6. August damit ein. Um 7:09 Uhr springt sie ins eiskalte Wasser. 56 Kilometer liegen vor ihr.

Ans Seil gebunden

Das Schwimmen brachte ihr der Vater bei. Der deutsche Fleischer war um die Jahrhundertwende in die USA ausgewandert. Gertrude kam am 23. Oktober 1906 in Queens, New York zur Welt. Sie wuchs mit fünf Geschwistern in der Amsterdam Avenue auf. Den Sommer verbrachte die Familie in New Jersey, wo sie Vater Henry an ein Seil band und im Fluss schwimmen ließ. Das berichtet Tim Dahlberg, Sportjournalist und einziger Ederle-Biograf. Andere behaupten, sie habe es in der schwäbischen Heimat des Vaters gelernt.

Fest steht, dass sie mit Zwölf ihren ersten Weltrekord aufstellte – in 800 Meter Freistil. Bei den Olympischen Spielen in Paris gewann sie 1924 eine Gold- und zwei Bronzemedaillen. Ederle gehörte zu einer Truppe junger, selbstbewusster Sportlerinnen, die sich mit den Männern messen wollten – wie bei der Durchquerung des Ärmelkanals.

Die einzige Entschlossene

Trudy Ederle ist zu ihrer Zeit nicht die einzige Frau, die es versucht. "Aber die einzige, die die Entschlossenheit dazu hatte", schreibt Dahlberg.

Es ist bereits ihr zweiter Versuch. Im Jahr zuvor scheiterte sie. Die Kräfte verließen sie. Als die Menschen im Begleitboot befürchteten, sie würde ertrinken, zog sie ihr Vater aus dem Wasser. Und brachte sie um den Rekord.

"Swim girl, swim"

Diesmal soll es aber klappen. Und wenn nicht, dann will sie im Wasser bleiben, niemand darf sie rausziehen, auch nicht, wenn sie darum bittet, soll sie ihrem Vater gesagt haben. Stück für Stück arbeitet sie sich durch die unberechenbare See. Angefeuert vom Vater: "Swim girl, swim". Zur Stärkung gibt es Suppe in der Thermosflasche oder Hendlhaxen.

Auch Journalisten sind dabei. Chicago Tribune und New York Daily News finanzierten ihr den zweiten Trainingsaufenthalt in Europa. Ihrem ersten Coach machte sie es nicht leicht. Statt Sportler-Kost verspeiste sie zum Frühstück gerne frittierte Apfelringe. Statt sich massieren zu lassen, spielte sie in den Pausen Ukulele und las Bücher. US-Medien lieferten Homestorys vom "American Girl", dem netten Mädchen von nebenan, das sportelte und kochte. Als sie am 6. August 1926 um 21:04 in Kingsdown bei Dover erschöpft aus dem Meer wankt, ist sie für alle nur mehr "Trudy Superstar". Oder "America’s best girl", wie sie Präsident Calvin Coolidge nennt. Mit 14 Stunden und 31 Minuten hat sie die Bestzeit der Männer um fast zwei Stunden unterboten. Enrique Tiraboschi benötigte zuvor 16 Stunden und 33 Minuten.

Wie eine Frau erstmals den Ärmelkanal bezwang

Die negativen Folgen

Im Konfettiregen wird Ederle in New York von fast zwei Millionen Menschen empfangen.

Doch die Konsequenzen ihres größten Erfolgs minderten alles, was sie erreicht hatte. Ihre Schwerhörigkeit, unter der sie von Kindheit an litt, wurde schlimmer. Grund: Das Salzwasser schädigte ihr Trommelfell. Ihr Verlobter verließ sie.

Auch finanziell profitierte sie nie wirklich von ihrem Rekord. Eine Filmrolle, ein Lied und Auftritte in einem Varieté-Theater brachten zwar Geld, nach der Weltwirtschaftskrise hatte es kaum noch Wert. 1933 stürzte sie in ihrer Wohnung, verletzte sich die Wirbelsäule – erst nach Jahren lernte sie wieder gehen und schwimmen.

Zurückgezogen

Anders als viele Helden ihrer Zeit war sie nicht sehr auf ihr Image bedacht, schrieb weder Bücher noch eine Autobiografie. Während sich ein Charles Lindbergh gut vermarktete, zog sich die fast taube Trudy Ederle zurück. Arbeitete als Schwimmlehrerin und blieb bis zu ihrem Lebensende 2003 alleine. "Am glücklichsten war ich zwischen den Wellen", resümierte sie Jahre später. Die einst bekannteste Sportlerin der Welt, die "Queen of the Waves", geriet in Vergessenheit.

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