Das alte Jahr kann mich mal - Zeit, sich zu ändern

Wir verändern uns, wir wollen uns verändern, wir müssen - so der Zeitgeist.
Der Silvesterabend. Kein Tag eignet sich besser, um eine Bilanz des vergangenen Jahres zu ziehen und sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Wir wollen uns und unser Leben verändern. Doch es fällt uns schwer. Warum ist das so?

Zehn! Neun! Acht! Sieben! Sechs! ...

Es ist der 31. Dezember, Silvesterabend. Vom Raclette gesättigt und Sektrausch beflügelt, fällt man sich in die Arme und denkt über das kommende Jahr nach. Es liegt vor einem - völlig weiß und unbeschrieben. Die perfekte Zeit also für Vorsätze: Ich werde endlich mehr Zeit für mich haben, mich nicht mehr unter Druck setzen lassen und mir endlich ein erfüllendes Hobby suchen, Origami zum Beispiel. Ja, es ist fix, ich drücke den Reset-Knopf und ändere mein Leben!

Wenige Wochen später ist die Euphorie dem Alltag gewichen. Der Chef setzt einen noch immer unter Druck und der Origami-Elefant wartet noch darauf, zu einem gefaltet zu werden. Der Neuanfang war keiner, sondern nur ein weiteres Glied in der Kette. Wir fragen uns, warum sich nichts verändert. Wo bleibt er denn, der Wandel?

"Alles fließt"

Für die Philosophen der Antike würde sich diese Frage gar nicht stellen. Das Sein, so heißt es zum Beispiel beim vorsokratischen Denker Heraklit von Ephesos (etwa 520 bis 460 v. Chr.), verändert sich ständig. Das fließende Wasser dient ihm hierfür als Symbol. "Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu" lautet ein überliefertes Fragment seiner bekannten Flusslehre. Sokrates (469 bis 399 v. Chr.) fasste die Heraklitische Lehre mit "panta rhei" zusammen; nichts bleibt wie es ist, "alles fließt". Selbst Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) hat diesen Gedanken aufgegriffen und dichtete im 19. Jahrhundert:

"Gleich mit jedem Regengusse

Ändert sich dein holdes Tal,

Ach, und in demselben Flusse

Schwimmst du nicht zum zweitenmal."

Doch nicht nur das Wasser, das das Flussbeet durchquert, ändert sich, auch der Mensch, der darin watet. Im Laufe der Zeit wächst er, dann schrumpft er wieder zusammen. Ohne Bewegung gibt es eben keinen Wandel, offenbarte Griechenlands Paradephilosoph Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.). Alles, was sich bewegt, lebt, was stillsteht, ist tot. Ähnlich argumentierte Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Die Veränderung sei "die Manifestation dessen, was das Dasein an sich ist", hielt er in seinem Werk "Die Wissenschaft der Logik" (1812) fest.

Wir wollen Veränderung

Dem Menschen sind diese mikroskopischen Veränderungen nicht immer bewusst. Hier ergeht es uns wie dem Frosch im Kochtopf, der nicht merkt, dass das Wasser, in dem er sitzt, von Sekunde zu Sekunde wärmer wird - bis es schließlich zu spät ist. Dass wir uns verändert haben, merken wir eigentlich erst, wenn uns jemand darauf anspricht.

Ich: "Hi du. Lange nicht mehr gesehen. Wie geht‘s dir?"

Sie: "Das müssen Jahre her sein. Du hast dich aber verändert."

Haben wir uns verändert? Das ist schwierig zu beantworten, weil die Veränderung ein Prozess ist und wir mittendrin stecken. Aber wenn wir im Alltag von Veränderung sprechen, meinen wir ohnehin nicht jene, die sich unserem Einfluss entzieht, sondern die, die wir gezielt auslösen können. Neujahrsvorsätze zum Beispiel: Ich werde mehr Sport machen; mit dem Rauchen aufhören; den verhassten Job kündigen; die ausgeliebte Beziehung beenden; …

https://images.kurier.at/21006202445_1e8ea8913c_k.jpg/236.785.326 Ryan Vaarsi / Flickr Time goes by

"Du mußt dein Leben ändern", schrieb schon Rainer Maria Rilke (1875-1926) Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Sonett "Archaïscher Torso Apollos" (1908). Aber ganz so einfach ist das natürlich nicht. Das Versprechen auf ein besseres Leben ist mit Anstrengung verbunden, erklärt der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Essay "Du mußt dein Leben ändern" (2009). Wer aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, also aus der religiös und politisch erwünschten Faulheit, ausbrechen will, muss zuerst an sich arbeiten - also üben, und zwar ständig.

Die Ausführungen Sloterdijks treffen den Zeitgeist. Vom Wohnort bis zum (Lebensabschnitts-)Partner, von der Kaffeemaschine bis zur nächsten Reise - alles muss sich ändern, am besten sofort. Das Leben ist wie eine Gasse mit vielen Abzweigungen. Mal biegt man links ab, dann mal rechts, und immer hofft man, davon zu profitieren. Die Tragik dabei ist, dass die Entscheidung, einen anderen Weg einzuschlagen, nicht immer glücklich macht (mehr dazu hier).

Mut und Risiko

Ein Wandel kann nämlich auch schiefgehen. Ein Besuch beim Friseur, um "einfach mal etwas Neues" auszuprobieren, ist das beste Beispiel dafür. Wenn der Stylist nach getaner Arbeit den Spiegel hochhält, man angesichts des haarsträubenden Ergebnisses den Tränen nahe ist, aber trotzdem versucht, höflich zu sein, sehnt man sich doch lieber die alte Frisur zurück (hier zum Beispiel).

Aber eine Veränderung braucht genau das: Risiko und Mut. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, heißt es im Volksmund. Bedeutet allerdings auch, etwas aufzugeben, an das man sich gewöhnt hat. Sei es der tägliche Kaffee am Morgen, die Zigarette in der Mittagspause oder die Stadt, in der man seit seiner Geburt lebt. Und je älter man wird, desto fester klammert man sich an Altbewährtes. "Wenn der Mensch dreißig Jahre alt ist, ist sein Charakter wie Mörtel und wird niemals mehr weich", schrieb der US-Psychologe William James (1842-1910) in seiner Schrift "The Principles of Psychology" (1890).

https://images.kurier.at/46-89078623.jpg/238.135.140 Getty Images/iStockphoto/123ducu/istockphoto Door opening to spring Opening door to green field Das Gewohnheitstier

Für das Ende des 19. Jahrhunderts mag James' These vielleicht stimmen, die durchschnittliche Lebenserwartung betrug damals nur 40 Jahre. Doch, dass der Mensch aus (teils belanglosen) Routinen besteht, belegen auch aktuelle Studien des Sozialpsychologen Bas Verplanken. Menschen sind Gewohnheitstiere. Wenn der Wecker klingelt, drücken wir ihn ab; wenn die Schulglocke läutet, packen wir unsere Sachen zusammen; wenn uns das Essen in der Kantine nicht schmeckt, nörgeln wir über den Koch. Oder ganz einfach: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.

Freilich sind Gewohnheiten per se nicht schlimm. Sie regeln unseren Alltag, weisen uns den Weg. Aber genau deshalb sind sie auch gefährlich. Wir hinterfragen Routinen nicht, wir tun sie einfach. "Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist", soll der Autopionier Henry Ford (1863-1947) gesagt haben. Das geht aber jetzt gar nicht. Im neuen Jahr haben wir ja viel vor. Wir wollen uns ändern, den Planeten retten und vielleicht auch den Partner besser erziehen.

Zurück zur Normalität

Paradoxerweise gelingt ein Wandel nicht ohne Gewohnheit. Neues soll zur Routine werden, meinte der polnische Psychologe Kurt Lewin (1890-1947) und entwickelte das 3-Phasen-Veränderungsmodell. Alte Strukturen zuerst "auftauen", Veränderung umsetzen und dann das Neue als Status Quo wieder "einfrieren". Und falls der scheinbar einfache Prozess gelingt, endet der Wandel so, wie er begonnen hat: mit der Normalität. Der Vorsatz, sich nicht länger unter Druck setzen zu lassen, soll ja nicht nach dem ersten Anruf des Chefs flöten gehen.

https://images.kurier.at/4565284977_20b050f616_o.jpg/236.785.285 Michael Clark / Flickr Time goes by

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es neben den kleineren Veränderungen noch die größeren wie etwa den Klimawandel oder den europaweiten Rechtsruck in der Politik (mehr dazu hier) gibt. Diese Phänomene sind wohl schwieriger zu beeinflussen. Manchmal finden sie abrupt statt wie die Französischen Revolution, manchmal auch schrittweise wie die zunehmende Digitalisierung.

Klar ist allerdings: Ein Wandel - egal ob groß oder klein - findet nicht statt, wenn alles in Ordnung ist. Wer in einer wohlig warmen Wanne sitzt, wird nicht den Drang verspüren, aufzustehen, um dann ins kalte Nass zu springen. Für Karl Marx (1818-1883), der die Gesellschaft bekanntlich komplett umkrempeln wollte, war die Religion schuld daran, dass die Arbeiterklasse nicht revoltierte. Die Religion, schrieb er, sei das "Opium des Volkes", eine Droge, die uns träge und unwillig macht. Auch heute trösten wir uns mit der Illusion, dass wir ohnehin nichts ändern können, weil wir bloß Marionetten in einem Puppentheater sind. Gleichgültig heißt es dann: "Schau ma mal, dann seh ma eh."

Aber das, was US-Bürgerrechtler und Aufklärer in Europa vor Jahrzehnten schon predigten, gilt auch heute noch. Wer den Status Quo kritisiert, wird ihn ändern können. Genau deshalb ist kritisches Denken so wichtig und ein guter Vorsatz fürs neue Jahr immer noch besser als gar nichts - selbst wenn er nicht ganz klappen sollte.

... Fünf! Vier! Drei! Zwei! Eins! Prosit Neujahr!

Hier finden Sie alle Artikel zum Jahresrückblick 2016.

"Die Fragmente der Vorsokratiker" von Hermann Alexander Diehls, deutscher Philosophiehistoriker, 1903 veröffentlicht. Es handelt sich um eine Sammlung aller überlieferten Texte, Lehrmeinungen und Zeugnisse der Vorsokratiker, also der griechischen Denker vor Sokrates (469 bis 399 v. Chr.).

"Dauer im Wechsel" von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832).

"Die Naturphilosophie des Aristoteles" (1980) von Ingrid Craemer-Ruegenberg. Die Autorin hat die Bewegungsphilosophie des griechischen Philosophen in wenigen Seiten zusammengefasst.

"Die Wissenschaft der Logik" von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Veröffentlicht wurde das Werk 1812. Es gibt auch zahlreiche kommentierte Versionen, die als Unterstützung für die Lektüre des Originals dienen.

"The Principles of Psychology" (1890) von William James (1842-1910). Der US-amerikanische Psychologe beschäftigte sich mit den Gewohnheiten des Menschen.

"Die Lösung sozialer Konflikte: ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik" (1953) von Kurt Lewin (1890-1947). Der polnische Psychologe wollte nach seiner Emigration in die USA herausfinden, wie sozialen Konflikte in Deutschland gelöst werden könnten. Die Idee: durch eine Veränderung.

"Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" (1843/1844) von Karl Marx (1818-1883).

Kommentare