Alte Heilkunst für Patienten von heute

Altes Wissen wird bei TEM neu interpretiert.
Erstmals widmet sich ein Kongress der überlieferten Pflanzenkunde aus Klöstern.

"Schlafe seit Wochen schlecht, gehe jetzt zum TCM-Arzt", "Bin gestresst, brauche dringend eine Ayurvedakur": Die chinesische oder indische Heilkunst erfreut sich wachsender Popularität. Dass es auch ein europäisches Pendant dazu gibt – die Traditionelle Europäische Medizin (TEM) –, wissen nur die wenigsten. Um das zu ändern und die TEM zu fördern, veranstaltet die Wiener Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin (GAMED) nun den ersten TEM-Kongress (13. und 14. Oktober, FH Campus Wien).

"Traditionelle Europäische Medizin wurde früher besonders intensiv in Klöstern und Heil- bzw. Kurbädern betrieben. Pflanzenheilkunde war vorwiegend die Domäne von Mönchen und Nonnen, wie etwa Hildegard von Bingen. Nach einer Ära, in der traditionelle Verfahren durch die Naturwissenschaft in den Hintergrund gedrängt wurden, ist derzeit weltweit eine Renaissance altbewährter Methoden zu beobachten", sagt a.o. Univ.-Prof. Wolfgang Marktl, GAMED-Präsident.

Mehr Studien nötig

TEM gilt als Teil der sogenannten Integrativen Medizin und inkludiert Methoden wie Phytotherapie, Kur- und Bädertherapie. Mit Integrativmedizin ist die Idee gemeint, Schulmedizin und komplementäre Therapien aus einer Hand miteinander zu verbinden – auf Basis von Studien. Ein heikler Punkt, denn für viele Methoden fehlen bisher wissenschaftliche Grundlagen. Was der Medizinhistoriker und TEM-Experte Karl-Heinz Steinmetz gar nicht abstreiten möchte: "Das stimmt, doch das ist auch eine Finanzierungsfrage. Die Pharmaindustrie kann in Studien Millionen von Euros investieren, die TEM kann das nicht. Frech gesagt: Es liegt nicht an der TEM. Wenn ein Uni-Klinikum eine Studie machen möchte, wäre ich sofort dabei." Punkt zwei betrifft das Studiendesign. "Es kann für pharmakologisch wirksame Substanzen nicht eins zu eins auf Methoden wie Schröpfen oder Akupressur umgelegt werden. Da müssten wir erst neue Studiendesigns finden. Es reicht nicht, dass sich TEM gut anfühlt, sie muss auch nachweisbar gut sein."

Ihm sei letztendlich egal, wo therapeutisches Wissen herkommt, "wenn es valide ist und hilft, ist es ein Baustein, auf den wir nicht verzichten können. Egal, ob das chinesische Medizin, Computermedizin oder eben TEM heißt". Als Beispiel nennt Steinmetz eine Krebserkrankung: "Nehmen wir an, jemand hat sich hier zu Recht für eine Chemotherapie entschieden, spricht nichts dagegen, dass er aus der TEM Eibisch zur Mundschleimhautpflege nimmt. Es geht darum, altes Wissen mit modernen Verfahren zu kombinieren."

Mensch im Zentrum

Bei der TEM steht der Mensch im Mittelpunkt, die Diagnostik erfolgt meist mit Hilfe körperlicher Berührung, wie etwa Pulsdiagnose, Überprüfung des Körpertonus und des Zustands von Haut und Haaren, um den individuellen Gesundheitszustand zu erheben. "Wir sind froh, dass wir MR und CT und auch Gesundheitsdatenbanken haben, aber gleichzeitig bleibt die therapeutische Allianz auf der Strecke. Dabei überlegen Patient und Arzt gemeinsam, was die richtige Gesundheitsstrategie ist – darum dreht sich bei der TEM alles."

Bewährt hat sich die TEM zum Beispiel auch in der Psychiatrie und Neurologie: "Pflanzliche Arzneien sind sehr gut geeignet, um bei einer depressiven Stoffwechsellage auf biologischer Ebene gegenzusteuern", sagt Univ.-Doz. Peter Hofmann, stellvertretender Vorstand der Grazer Univ-Klinik für Psychiatrie. Bei Schlafstörungen seien ebenfalls zuerst Pflanzen zu bevorzugen, "man muss nicht gleich zu Schlafmitteln greifen, sondern kann es mit Baldrian, Passionsblume, Johanniskraut oder Hopfen probieren". Passionsblume sei auch bei Angststörungen eine Option.

Hofmanns Fazit: "Alle modernen Psychopharmaka wurden im Wesentlichen in den 1950er-Jahren entwickelt. Davor standen für psychische Erkrankungen ausschließlich pflanzliche Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Phytopharmaka sind ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Medizin und eignen sich insbesondere als niederschwelliger Einstieg mit guter Verträglichkeit bei der Behandlung von psychischen Störungen wie Depression, Angst oder Schlafstörungen."

TEM-Ausbildung

TEM-Experte Steinmetz erwartet sich jedenfalls, dass die TEM in den kommenden fünf Jahren stark an Bedeutung gewinnen wird. Allerdings steckt die Ausbildung derzeit noch in den Kinderschuhen, und nur wenige Institutionen bieten TEM an, wie etwa das Kurhaus im oberösterreichischen Kreuzenberg. Steinmetz: "Zu wünschen wäre die Etablierung eines universitären Hochschullehrgangs, der Weg bis dahin wird allerdings lange und dornig sein."

Die Traditionelle Europäische Medizin teilt die menschliche Komplexität in vier Temperament-Grundtypen ein: Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker. Diese Temperamente gibt es nie in Reinform; sie sind auch keine Schubladen, in die man Menschen stecken könnte.

  • Sanguiniker – optimistisch und kreativ Äußerliche Merkmale: Ovales Gesicht, volle Lippen, mandelförmige Augen. Statur gut proportioniert und guter Muskelansatz, meist voller Haarwuchs. Rosige, warme und leicht fettige Haut. Konstitution: Hohe soziale Kompetenz, kreativ, spielerisch und optimistisch. Viel Appetit auf herzhafte Speisen. Guter und erholsamer Schlaf. Schwachstellen: erhöhte Cholesterin‐ und Blutzuckerwerte. Probleme mit den Atemwegen, Hautirritationen und Allergien, bei Frauen: zu starke Menstruation. Sport: Bevorzugt Mannschaftssportarten z.B. Ballspiele, Rudern oder Tanzen. Ernährungstipps: Vorsicht mit viel rotem Fleisch, Eiweiß, süßen und fetten Speisen. Einen guten Ausgleich bieten Lebensmitteln wie Brombeeren, Hirse, Linsen, Löwenzahn, Mangold und Roggen. Spannende Heilpflanzen: Schafgarbe, Eisenkraut, Weißdorn.
    • Choleriker – strategisch und dominant Äußerliche Merkmale: Dreieckiges Gesicht, markante und glänzende Augen, meist schlank, Venen und Knochenstrukturen sind sichtbar. Oft lockiges Haar und Wirbel. Rötliche, warme und trockene Haut. Konstitution: Hohe Führungskompetenz, strategische, analytische und systematische Arbeitsweise. Unregelmäßiger Appetit, manchmal Heißhungerattacken, Gusto auf Salziges und Alkohol. Schwachstellen: Sodbrennen, Übersäuerung, Neigung zu Entzündungen, Spannungskopfschmerzen, Unruhe. Oberflächlicher Schlaf.Sport: Liebt Sportarten mit Krafteinsatz und Wettkampfcharakter, z.B. Marathon, Bergsteigen, Laufen. Ernährungstipps: Vorsicht mit Salzigem und Scharfem, Alkohol, fettigen und frittierten Speisen. Ausbalancierend sind hingegen Gurke, Artischocke, Kürbis, Salat, Birnen, Erbsen und Fisch. Spannende Heilpflanzen: Löwenzahn, Labkraut, Lavendel.
    • Melancholiker – sensibel und analytisch Äußerliche Merkmale: Schlankes Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und schmalen Lippen. Schlanke oder fragile Körperform, Knochen und Sehnen sind meist sichtbar. Oft dunkles, glattes und dickes Haar. Konstitution: Gutes Erinnerungsvermögen. Einfühlsamer, analytischer, bisweilen aber auch distanzierter Charakter. Appetit ist wechselhaft und stimmungsabhängig. Schwachstellen: Untergewicht, Unterzucker, Nervosität, Erschöpfung, Depression, Verstopfung. Leichter und störanfälliger Schlaf. Sport: Sport in kleinen Gruppen oder allein, oft mit ästhetischem Anspruch, z.B. Tanz, Fechten, Bogenschießen. Ernährungstipps: Vorsichtig mit reifem Hartkäsen, Hülsenfrüchten oder viel Wurst und Schinken. Gut vertragen werden hingegen Karotten, Rote Rüben, Spargel, Bananen, Weizen, Mandeln, Honig und Geflügel. Spannende Heilpflanzen: Melisse, Johanniskraut, Gundelrebe.
    • Phlegmatiker – gemütlich und aufgeschlossen Äußerliche Merkmale: Runde Gesichtsform, kleine Nase und große Augen. Figur mit runder Zeichnung, weiche Muskeln sowie blasse und feuchte Haut. Helles, feines Haar. Konstitution: Gründlich und geduldige Arbeitsweise; gesellig und konsensorientiert. Guter Appetit bei träger Verdauung. Schwachstellen: Neigung zu Ödemen, Cellulite, Verschleimung der Atemwege, Wasser in den Beinen. Meist tiefer und langer Schlaf.Sport: Liebt Bewegungsarten mit äußerer Unterstützung, z.B. Radfahren, Reiten, Schwimmen, Segeln. Ernährungstipps: Vorsicht mit zu viel an Milchprodukten, Zucker, Stärke, Weizenmehl. Eine gute Balance bieten hingegen Maroni, Sellerie, bitteres Blattgemüse, Holunder, Zimt, Rind und Wild. Spannende Heilpflanzen: Fenchel, Quendel, Salbei.

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