Speis & Tank: Kulturgeschichte der Tankstelle
In einer Tankstelle in Wien-Donaustadt zwitschern die Monteure eines angesehenen Autohauses gegen 9 Uhr ihr erstes Bier – aus der Flasche. In einer Tankstelle im Norden von Graz sitzen die Stammgäste auf ihrer in Eigenregie errichteten Terrasse. In einer Tankstelle in Brunn am Gebirge plauschen sonntags relaxte Kunden in loungeartigen Sitzmöbel und trinken Kaffee. In zahlreichen Tankstellen des Landes kaufen die Autofahrer frisches Obst und Schnittblumen.
Tratschen statt tanken
Wo ist die Zeit, da es an diesen Orten in erster Linie nach Benzin roch, ehemalige Fußball-Ikonen der Nation ihre Pensionsvorsorge hüteten und der französische Anthropologe Marc Augé unwidersprochen von einem Transit- bzw. "Nicht-Ort" schreiben konnte?
Geselliger Austausch
Nach drei Jahren intensiver Recherche bei 14 Tankstellen der Steiermark kann Professor Eberhart Folgendes erklären: "Während in den Städten die klassischen Beisel vom Aussterben bedroht sind und es in vielen Dörfern kein Wirtshaus mehr gibt, wandert der Stammtisch zunehmend in den Gastronomiebereich der Tankstellen und erfüllt dort die selbe Funktion des geselligen Austauschs."
Aus dem lange Zeit wenig beachteten Unort wird somit ein Ort der Begegnung, auch ein sozialer Schmelztiegel, weil hier noch alle sozialen Schichten verkehren und zusammentreffen.
Lebensgrundlage
Heute weiß Eberhart: "Sinkende Einnahmen aus dem Kerngeschäft, Selbstbedienungszapfsäulen sowie die mit Strom betriebenen Fahrzeuge setzen den Pächtern zu. Da sind zusätzliche Einkommen willkommen."
Steirermän
Für seine Studenten, in der Mehrheit Frauen, war diese Art von Feldforschung eine Herausforderung, betraten sie doch bis dahin wenig bekannte Soziotope von indigenen alpinen Völkern. In der Steiermark werden diese immer noch geprägt vom teils seltsam anmutenden Macho-Spruch der "Steirermän".
Ihr Professor umschreibt das vorsichtig, akademisch: "Der Diskurs auf einer Tankstelle kann mitunter immer noch recht rau sein, von deftigen Männergesprächen dominiert, was auf die weiblichen Kunden eher abschreckend wirkt." Er fügt jedoch hinzu: "Heute kommt es deshalb kaum noch zu ernsthaften Problemen."
Keine Trinkhallen
Die seit Langem gehegte Befürchtung der Mineralölkonzerne, wonach die Tankstellen zu Trinkhallen verkommen könnten und mehr Autofahrer quasi "im Öl" (betrunken) von der Tankstelle losfahren könnten, sieht der Grazer Ethnologe übrigens keineswegs bestätigt.
In der Wirtschaftskammer hat man seine Expertise mit Interesse gelesen. Helmut Eberhart, der bisher eher ein Experte für Wallfahrtsforschung war, plant nun mit seinen Studenten eine Ausstellung – über den Funktionswandel der Tankstelle.
Die Geschichte der Tankstelle ist nicht überraschend eng mit der Geschichte des Automobils verbunden. Als Mutter aller Tankstellen gilt die Stadtapotheke von Wiesloch. Sie liegt auf dem Weg von Mannheim nach Stuttgart – und wurde von Bertha Benz, der Frau des Auto-Erfinders Carl Benz, bei ihrer ersten Überlandfahrt angesteuert. Frau Benz erstand in der Apotheke von Wiesloch so genanntes Ligroin, ein Leichtbenzin, damit konnte sie ihre historische Ausfahrt guter Dinge fortsetzen.
In weiterer Folge wurde Benzin in Milchkannen, Fässern und Kanistern ausgegeben, meist in Werkstätten, Geschäften und Hinterhöfen. Achtlos angezündete oder weggeworfene Zigaretten führten beim Umfüllen oft genug zu fatalen Unfällen.
Die rasante Zunahme des motorisierten Individualverkehrs in den Städten machte bald zusätzliche Verkaufsstellen erforderlich. Zur Jahrhundertwende prägten Tankkioske und Gehsteigpumpen das Bild der meisten modernen Städte. Sie speisten ihren Treibstoff aus eigenen unterirdisch angelegten Depots.
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