Projekt "whatsalp": Warum Forscher von Wien nach Nizza wandern

In den kommenden vier Monaten wollen Wissenschaftler den Alpenbogen durchqueren.

Auf einen Ort ist Dominik Siegrist besonders gespannt: Puschlav im Schweizer Kanton Graubünden. "Dort gab es vor 25 Jahren heftige Diskussionen um die Biolandwirtschaft. Ein Politiker behauptete damals, dass diese Region bald zu 100 Prozent bio sein würde. Und sie haben es tatsächlich geschafft. Das möchte ich mir jetzt anschauen", erzählt der Schweizer Geograf.

Diese Nachschau wird jetzt möglich, weil Siegrist ein Wanderprojekt aus dem Jahr 1992 wiederholt: Vor gut einer Woche ist das Kernteam, Siegrist und der Geograf Harry Spiess von der Universität Zürich, in Wien aufgebrochen, um am 29. September in Nizza anzukommen – zu Fuß, auf Weitwanderwegen quer durch die Alpen. Zweck des Marsches: Daten über die Veränderungen von Gesellschaft und Landschaft im Alpenraum zu sammeln. Immer wieder werden Geografen, Landschaftsplaner, Hydrologen, Kulturlandschafts- und Schutzgebietsforscher sowie Laien für ein paar Tage dazustoßen.

2017 bewegt sich das Team großteils auf denselben Wegen durch die acht Länder, die bereits 1992 im Rahmen des Vorgänger-Projekts "TransALPedes" bewältigt wurden. Genau darin liege auch die Stärke des Vorhabens: Die Wissenschaftler können 25 Jahre umspannende Vergleiche anstellen. Und der KURIER begleitete die Forscher ein Stück des Weges.

Treffpunkt

Rohr im Gebirge, vor dem Gasthof gleich neben der Kirche: Heute geht es vorbei an bunten Magerwiesen und Fichtenmonokulturen. Erstere finden Gnade vor den Forscheraugen, zweitere nicht. Der Wald hier sei im 19. Jahrhundert für die Holzproduktion aufgeforstet worden. "Doch Monokulturen fehlt die Fähigkeit, sich an den Klimawandel anzupassen. Früher stand hier ein Buchenmischwald", erzählt Siegrist. Alpengeograf Gerhard Stürzlinger, einer, der ein paar Tage mitwandert, ergänzt: "Es dauert 100 bis 200 Jahre, ehe die Natur die von Menschen geschaffene Monokultur in eine Vielfaltskultur zurückverwandelt." Vorausgesetzt, man lässt sie.

Weiter geht es, bergan Richtung Mariazell: "Der enthält vier Monate Hausrat", sagt Siegrist und deutet auf seinen alles andere als großen Rucksack. Der Unterschied zu 1992? "Zwei Kilo davon sind Elektronik." Die braucht er auch, wird doch täglich im Blog über den Fortgang der Wanderung und den Zustand der Alpen berichtet.

Siegrist, der genau wie Spiess schon vor 25 Jahren mitmarschiert ist, möchte wissen, welche Spuren die Menschen hinterlassen, was die Treiber des Wandels sind, und ob es eine Entwicklung ohne neue Skipisten und Straßen geben kann. Eines sei positiv: "Heute stehen 30 Prozent der Alpen unter Schutz. 1992 gab es noch kaum Natur- oder Nationalparks."

Wir reden über Liftbau und das Skigebiet am Unterberg, das bewusst auf Schneekanonen verzichtet; über Tourismus-Konzerne, die die Alpen aufkaufen wollen; das Treffen mit örtlichen Vereinen, die sich zum Beispiel für den Schutz der Perchtoldsdorfer Haide einsetzen; über Wanderschäfer, die mit ihren Schafen die Alpenwiesen naturnah pflegen.

Über-Leben in der Natur

Es gebe einen Paradigmenwechsel beim Umweltschutz: nicht mehr die Käseglocke über die Landschaft legen, sondern ein zukunftsfähiges Modell entwickeln, wie der Mensch im Einklang mit der Natur leben und überleben kann, lautet die Devise. Konzepte gebe es, etwa, was die Zukunft der Landwirtschaft betreffe. "Hier hat Österreich die Nase vorn", lobt Siegrist und nennt als Beispiel die zukunftsorientierte Berglandwirtschaft mit regionalen Produkten für den Tourismus.

Problem Abwanderung

"In Sachen Landschaftspflege liegt aber die Schweiz vorne, die romanischen Länder hinken nach", sagt er und erzählt von der zerfallenden Kulturlandschaft im Piemont. "Dort gibt es Täler, die vor 100 Jahren noch dicht besiedelt waren und jetzt lebt keiner mehr dort." Die Abwanderung sei mittlerweile im gesamten Alpenbogen ein Riesenproblem. Erst gestern haben die whatsalp-Forscher mit einem Bauern und einer Wirtin gesprochen, die erzählten: "Hier ist nix los, alle gehen weg." Ja, auch Gespräche mit Menschen auf dem Land über ihren Alltag können Wissenschaft sein.

Und noch etwas wollen die Herrn von whatsalp überprüfen: Vor 25 Jahren habe der damalige Generaldirektor der Großglockner Hochalpenstraße versprochen, dass das riesige Parkhaus am Berg in den kommenden zehn, zwanzig Jahren in ein geistiges Zentrum der Besinnung verwandelt würde. "Autofrei und nur mit Bussen erreichbar, hat er versprochen", sagt Harry Spiess. Naja, nicht alle Visionen werden wahr.

In 120 Tagen von Wien nach Nizza lautet die Forschungsmission. Der Zweck: Den Zustand und den Wandel in den Alpen dokumentieren. Laien können mitwandern, einfach im Internet unter whatsalp.org anmelden. Dort finden Sie auch die Route und die genauen Ankunftsdaten. Unterwegs sind außerdem etwa 60 Veranstaltungen und Vorträge geplant. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften beteiligt sich ebenfalls mit drei Forschungsprojekten an whatsalp.

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