NS-Experimente: Als Menschen zu "Material" wurden
Sieben Todesurteile, neun Haftstrafen und sieben Freisprüche – so lautete das Urteil für jene NS-Mediziner, die vor 70 Jahren in Nürnberg wegen Menschenversuchen vor Gericht standen. Nichts im Vergleich dazu, was ihren Opfern angetan worden war. Dennoch, für Herwig Czech vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands war der Prozess ein "ehrlich gemeinter Versuch, die Medizinverbrechen zu durchleuchten".
Nürnberger Kodex
Ein Meilenstein waren auch die ethischen Richtlinien über "zulässige medizinische Versuche", die die Richter als "Nürnberger Kodex" definierten. Dessen berühmtester Satz lautet: "Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich." "Es war sicher ein ehrgeiziger und früher Versuch, so etwas wie verbindliche Regeln für die Forschung am Menschen festzuhalten", sagt Czech. Welche Bedeutung der Kodex noch heute hat, wird in den kommenden Tagen bei einer Tagung der MedUni Wien besprochen ("Medical Ethics in the 70 Years after the Nuremberg Code, 1947 to the Present"). Christiane Drumel, Vorsitzende der Bioethikkommission und Inhaberin des UNESCO-Lehrstuhls für Bioethik, will damit Bewusstsein schaffen – "damit das Thema wieder in die Emotionen und in die Köpfe junger Ärzte kommt".
Opferperspektive
Auch die Opfer der Human-Experimente sollen nicht in Vergessenheit geraten – darum ist Medizinhistoriker Paul Weindling bemüht. Er forscht an der Oxford Brookes University und hat die erste umfassende Studie zu den Menschenversuchen des NS-Regimes verfasst. Über das Schicksal der Opfer – vor allem Roma, Juden und psychiatrische Patienten, war lange Zeit nichts bekannt, sagt Weindling. "Sie wurden zu namenlosem Material gemacht. Ihnen einen Namen zu geben, ist symbolisch wichtig", erklärt er im KURIER-Gespräch. Ebenso, den Beitrag jener zu erwähnen, die den Nürnberger Kodex mitverfasst haben, wie der in die USA emigrierte jüdische Psychiater und Psychoanalytiker Leo Alexander.
Weindling, dessen Mutter mit einem "Kindertransport" von Wien nach England gerettet wurde, sammelte zahlreiche Belege und Hinweise. Er dokumentierte etwa, wie viele Versuche tödlich endeten. "Die Anzahl der Opfer steigt ständig, es finden sich immer wieder Beispiele von unethischen Experimenten." Und sie fanden nicht nur in Konzentrationslagern statt, erklärt Weindling – auch in Universitätskliniken und Instituten. Über die dortigen Forschungspraktiken ist bis heute wenig bekannt. Dem kann der Wiener Historiker Herwig Czech nur zustimmen. "Besonders an den forschungsorientierten Unikliniken wäre eine systematische Aufarbeitung angebracht. Zu diesem Thema wissen wir noch viel zu wenig, es geht um die kritische Aufarbeitung der jüngeren Medizingeschichte."
Für Paul Weindling gibt es ebenfalls noch viel zu recherchieren. Der Medizinhistoriker versucht, Überlebende von Experimenten zu finden, etwa von NS-Arzt Josef Mengele. Und er will mehr über jene Menschen herausfinden, deren Körperteile für medizinische Zwecke in Forschungslaboren aufbewahrt wurden. "Es gibt viele weitere offene Fragen, etwa, inwiefern die Präparate ermordeter Patienten immer noch in Verwendung sind."
Als das amerikanische Militärtribunal am 20. August 1947 die Urteile im Nürnberger Ärzteprozess verhängte, traf dies namhafte und wenig bekannte Ärzte. Hitlers Leibarzt Karl Brandt wurde etwa wie sieben andere zum Tode verurteilt, er wusste von den Menschenversuchen, regte auch selbst Experimente zu Hepatitis A an. Die anderen erhielten Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslänglich. Keiner der Angeklagten hatte während des Prozesses einen Funken Reue gezeigt. Zudem kamen einige ihrer Kollegen unbestraft davon, machten später noch groß Karriere.
Warum damals nur wenige Mediziner vor Gericht kamen, weiß Historiker Herwig Czech. "Viele der schwer belasteten Täter haben bei Kriegsende Selbstmord begangen, andere tauchten unter und konnten schwer ausfindig gemacht werden. Die Geschichte ist voll von Tätern, die sich durchgeschlängelt haben", sagt Czech.
Zum Beispiel Hans Bertha, Gutachter der "T4-Aktion" (der Ermordung erwachsener Psychiatriepatienten im "Deutschen Reich"). Wäre er in den 1960er-Jahren nicht bei einem Autounfall gestorben, hätte sein Fall Potenzial gehabt, ein Skandal im Stil von Heinrich Gross zu werden. Gross ist vermutlich der bekannteste Mediziner, der in Österreich nach 1945 Karriere machte. Im benachbarten Ausland tauchte wiederum Georg Renno mit falschem Namen unter und vertrat in Deutschland andere Ärzte. Der stellvertretende ärztliche Leiter der NS-Tötungsanstalt Hartheim kam in den 1960ern vor Gericht. Dort zeigte er ebenfalls keine Einsicht und gab sich mit Hilfe von Kollegen als verhandlungsunfähig aus, berichtet Historiker Herwig Czech.
Neben der dünn besetzten Anklagebank gab es laut Czech auch noch juristische Einschränkungen, die dazu führten, dass Verbrechen an deutschen Staatsangehörigen – was für die meisten der "Euthanasie"-Opfer zutraf – nicht im Zentrum der alliierten Bemühungen um eine Strafverfolgung von NS-Tätern standen.
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