Das "Müllrecycling" der Körperzellen

„Aach“ hat Yoshinori Ohsumi angeblich gesagt, als er von der Auszeichnung erfuhr.
Yoshinori Ohsumi entdeckte, wie Zellen Schadhaftes verdauen – und wiederverwerten.

"Das ist quasi die zellinterne Müllverdauung": So nennt der Zell- und Alternsforscher Univ.-Prof. Georg Wick jene Entdeckung, für die der japanische Zellforscher Yoshinori Ohsumi vom Tokyo Institute of Technology am Montag den heurigen Medizinnobelpreis zuerkannt bekommen hat. Er hat den Mechanismus der Selbstverdauung ("Autophagie") entdeckt und aufgeklärt.

Gelungen ist ihm das am Beispiel von Hefezellen, später auch Säugetierzellen, die sich durch Abbau eigener Proteine auf veränderte Umweltbedingungen einstellen.

Autophagie kommt vom altgriechischen αautós "selbst", phagein "fressen" und cýtos "Zelle" und beschreibt den Prozess in Zellen, mit dem sie eigene Bestandteile abbauen, recyclen und wiederverwerten. Sie ist für ein Gleichgewicht zwischen der Produktion neuer und dem Abbau alter Zellbestandteile notwendig.

Energie sparen

Ein Mitochondrium (Energiekraftwerk) einer Leberzelle hat beispielsweise eine Lebenszeit von zehn Tagen, bevor es durch Selbstverdauung abgebaut wird und seine Bestandteile erneut zum Aufbau anderer Strukturen weiterverwendet werden. Somit ist die Autophagie auch eine im Laufe der Evolution entwickelte Strategie der Zellen, um Energie zu sparen.

Diese Autophagozytose ermöglicht auch den Abbau von Viren, Bakterien und Fremd-Eiweißen, die in die Zelle eingedrungen sind – die Zelle kann damit alle für sie schädlichen Bestandteile entfernen. Autophagie ist also ein Prozess, bei dem die Zellen sich selbst aufräumen und ihren Zellmüll, etwa deformierte oder beschädigte Proteine, entsorgen (siehe "Nachgefragt" unten).

Ohsumi, geboren 1945 hat fast sein ganzes Leben lang in Japan geforscht und wurde von Thomson Reuters seit 2013 als Favorit für den Medizin-Nobelpreis gehandelt – groß ist die Zahl seiner Zitationen und Preise.

Bereits in den 1960er-Jahren hatten Wissenschafter beobachtet, dass die Zellen eigene Bestandteile zerstören können. Aber wie das funktionierte, war lange nicht geklärt. In den 1990er-Jahren aber machte der Zellbiologe bahnbrechende Experimente: "Yoshinori Ohsumi benutzte die Bäckerhefe, um die Gene für diese Autophagie zu identifizieren. Später klärte er die der ,Selbstverdauung‘ zugrunde liegenden Mechanismen in der Hefe auf und zeigte, dass eine ähnliche Maschinerie dafür auch in unseren Zellen benutzt wird", hieß es am Montag in der Begründung für die Zuerkennung des Nobelpreises für Physiologie und Medizin.

Yoshinori Ohsumi hat angeblich mit einem Seufzen auf die Nachricht von dem Preis reagiert. "Er wirkte überrascht, seine erste Reaktion war: Aach", sagte der Sekretär des Nobelkomitees am schwedischen Karolinska-Institut, Thomas Perlmann, nach der Verkündung.

Überwältigt

In einem Gespräch mit dem japanischen Fernsehsender NHK zeigte sich Ohsumi überwältigt von der Auszeichnung. "Das ist eine Freude für einen Forscher, die nicht zu übertreffen ist." Auf die Frage, warum er sich auf die Auflösung und nicht auf die Zusammensetzung von Proteinen fokussiert habe, sagte er: "Ich wollte etwas tun, das die anderen nicht taten." Und weiter: "Seit 27 Jahren arbeite ich an dem Thema, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich das alles verstanden habe. Es gibt noch vieles zu entdecken, und ich möchte meine Forschung weitertreiben."

Yoshinori Ohsumi ist übrigens bereits der dritte Japaner seit 2012, der den Medizin-Nobelpreis bekommt. Und noch eine Besonderheit darf er sich auf die Fahnen heften: Er ist einer von nur drei Forschern, die in den vergangenen 20 Jahren den Medizin-Nobelpreis nicht teilen mussten.

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Univ.-Prof. Walter Berger ist stv. Leiter des Instituts für Krebsforschung (Teil des Comprehensive Cancer Center) der MedUni Wien.

KURIER: Welche Bedeutung hat die Autophagie, die Abfallvernichtung, in der Zelle?

Das "Müllrecycling" der Körperzellen
Krebsforscher Univ.-Prof. Walter Berger
Walter Berger: Es ist ein grundlegender Mechanismus, der das Überleben von Zellen erst ermöglicht. Es handelt sich um einen der Putztrupps in den Zellen. Und die Selbstverdauung geschädigter Bestandteile ist der Jungbrunnen der Zellen. Sie essen im wahrsten Sinne des Wortes all das in ihrem Inneren auf, was ihnen schaden könnte. Insoferne ist die Vergabe des Nobelpreises an Yoshinori Ohsumi sehr berechtigt.

Wie kann man sich das genau vorstellen?

Es ist ein Schutzmechanismus: Wenn Zellen zum Beispiel Hunger haben oder einer Chemotherapie ausgesetzt sind, bilden sich in ihrem Inneren schadhafte Bestandteile. Die Zelle kann dann diese Teile selbst verdauen, in ihre Grundbestandteile – Fette, Eiweiße – zerlegen und daraus wieder neue, intakte Zellbestandteile aufbauen. Das kann man als Recyclingprozess bezeichnen. Das ist so ähnlich, wie wenn sie alte Kerzenreste nehmen, diese einschmelzen und aus dem Wachs eine neue Kerze ziehen. Und es ist ein Schutz gegen den Zelltod, ein Reinigungsmechanismus. Die Zellen kämpfen damit sozusagen um ihre Intaktheit und Unversehrtheit. Sie können damit auch erste Veränderungen hin zur Entwicklung einer Krebszelle rechtzeitig abfangen.

Wird dieses Prinzip auch therapeutisch genutzt?

Ja. Es gibt Medikamente, die diese Selbstverdauung blockieren. Krebszellen teilen sich in ihrer Gier nach Wachstum so rasch, dass dabei viele Fehler in der Zellentwicklung passieren. Sie verlassen sich dann auf die Putztrupps, dass diese die Schäden wegputzen und reparieren. Blockiere ich mit Medikamenten diesen schützenden Mechanismus der Selbstverdauung, gehen die Krebszellen an den Teilungsschäden zugrunde.

Oder sie sterben an einer Vergiftung durch die toxischen Substanzen der Chemotherapie, weil sie diese einfach nicht mehr beseitigen können. Das Malariamittel Chloroquin etwa hemmt als weiteren Mechanismus die Autophagie. Daneben werden spezifische Arzneimittel zur Autophagie-Hemmung als Krebstherapeutika entwickelt.

Es gibt es aber auch andere Schutzmechanismen.

Bei der Autophagie geht es um den Abbau von Bestandteilen innerhalb einer Zelle durch diese spezielle Zelle selbst. Man darf diese Selbstverdauung nicht mit jenen Mechanismen verwechseln, bei denen Fresszellen – phagozytische Zellen – zum Beispiel in den Körper eindringende Bakterien und Viren erkennen. Diese Fresszellen umschließen diese Fremdstoffe und verdauen sie. In der Folge kann es zu einem kontrollierten Zelltod – einer Apoptose – kommen. Das ist aber wie schon erwähnt auch dann möglich, wenn der Schutzmechanismus der Selbstverdauung nicht mehr wirksam ist.

Die Bekanntgabe des Nobelpreises für Medizin bildet den Auftakt der alljährlichen Preisverleihung. Dienstag und Mittwoch folgen die Auszeichnungen für Physik und Chemie, am Donnerstag der Nobelpreis für Literatur. Der Friedensnobelpreis-Gewinner folgt am Freitag, den 9. Oktober. Seit 1969 gibt es den von der schwedischen Nationalbank gestifteten Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, der am 12. Oktober verkündet wird. Verliehen werden die Auszeichnungen am Todestag des Preisstifters Alfred Nobel, dem 10. Dezember, in Stockholm und Oslo. Die Verkündung des Physik-Gewinners gibt es am 4.10. ab 11.45 Uhr im Stream:

Chemie folgt am 5.10. ab 11.45 Uhr:

Der Gewinner des Friedensnobelpreis wird am 7.10. ab 11 Uhr bekannt gegeben:

An wen der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geht, ist am 10.10 ab 13 Uhr hier zu sehen:

Der Termin für Literatur steht noch nicht fest:

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