"Wer Hasspostings versendet, hat von sich selbst kein liebenswürdiges Bild"

Manfred Lütz: "Wer Hasspostings versendet, hat von sich selbst kein liebenswürdiges Bild."
Der Psychiater Manfred Lütz interviewte den Auschwitz-Überlebenden Jehuda Bacon und zieht Lehren über den Umgang mit dem Terror.

"Jehuda Bacon ist der eindrucksvollste Mensch, dem ich je begegnet bin. Von seiner Humanität können wir auch viel für unsere heutigen Probleme lernen – für den Umgang mit Terror, aber auch mit Aggressionen und Hass auf persönlicher Ebene." Manfred Lütz, 62, Psychiater und Theologe, hat mehrere Bestseller geschrieben (siehe unten). Aber die Aufzeichnungen aus 15 Stunden Gespräch mit dem israelischen Künstler Jehuda Bacon, 87, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hat, bezeichnet er als sein wichtigstes Buch. "Ich glaube, dass seine Weisheit das Leben jedes Menschen heller machen kann. Es ist die Weisheit eines Menschen, der Entsetzliches erlebt hat, aber darunter nicht zerbrochen ist."

KURIER: Jehuda Bacon hat im KZ unbeschreibliche Brutalität erlebt. Trotzdem ist er nicht voller Hass. Wie schafft man das?

Manfred Lütz: Bevor Jehuda Bacon im Alter von 15 Jahren vom Ghetto Theresienstadt ins KZ Auschwitz deportiert wurde, sagte ihm ein Lehrer, der später vergast wurde: "Denkt immer daran, in jedem Menschen ist ein unauslöschlicher göttlicher Funke, und den müsst ihr in eurem Leben zur Flamme werden lassen." Dieser Gedanke, sagt er, hat ihn gerettet.

Hat er selbst diesen "göttlichen Funken" erlebt?

Er beschreibt etwa einen brutalen SS-Mann, der eines Tages zehn junge Häftlinge – einer davon war Jehuda – antreten ließ. Sie rechneten mit dem Schlimmsten. Und dann führte er sie in einen Raum, da war ein Tisch und darauf lag eine Salami. Er schnitt sie in zehn Stücke und sagte nur: Esst und haut ab. "Sehen Sie", sagte Jehuda, "selbst da war dieser Funke". Als ich ihn fragte, ob er auch in Hitler einen solchen Funken sehen könne, wich er erst leicht zurück: "Das ist eine sehr spezielle Frage." Doch dann erzählte er, dass Hitler im Ersten Weltkrieg einen jüdischen Kriegskameraden gehabt habe, der habe ihm, als die Verfolgungen immer schlimmer wurden, geschrieben, ob er ihn nicht ausreisen lassen könne. Und Hitler habe das ermöglicht. "Sehen Sie", lächelte Jehuda, "sogar da war dieser Funke". Ich weiß noch, dass dieser Moment mich zutiefst berührt hat. Da sitze ich jemandem gegenüber, dessen Familie vergast wurde und der selber schreckliche Qualen erlitten hat, und der ist imstande so etwas zu sagen.

"Wer Hasspostings versendet, hat von sich selbst kein liebenswürdiges Bild"
Jehuda Bacon

Er hat sich nicht beugen lassen von all der Brutalität.

Als er nach dem Krieg in seine Heimatstadt Mährisch-Ostrau kam, sah er dort einen Deutschen, der zwangsweise Schnee schaufeln musste. Und da kam ihm der Gedanke, er könne ja jetzt auf den einen Stein werfen. Doch dann dachte er sich: Dann hätte Hitler gewonnen, "ich wollte nicht, dass es den Nazis gelingt, aus mir einen kleinen Nazi zu machen, einen Menschen, der voller Hass ist". Und er warf diesen Stein nicht. Man müsse, sagt er, den Teufelskreis der Aggression durchbrechen. Daraus können wir für unseren Umgang mit Terror, aber auch für den Alltag viel lernen.

Zum Beispiel?

Wenn wir auf Hass und Terror auch nur mit Hass und Terror reagieren, sind wir nicht viel besser als die Terroristen und alles wird immer nur noch schlimmer. Hätten die USA Deutschland und Österreich nach dem Krieg nicht aufgeholfen, sondern die Aggressionsspirale weitergedreht, wir wären nicht da, wo wir heute sind. Aber auch Bacon ist nicht naiv. Verzeihen könne er nur, wo jemand zu seinen Taten steht, die Verantwortung dafür übernimmt – und sie bereut.

Gerät eine solche tiefe Humanität heute in den Hintergrund?

Wenn sich im Leben immer nur alles um das eigene ICH dreht, dann ist irgendwann die Konsequenz, dass ich über die anderen Menschen nur noch hinwegschreite, um meinen eigenen Erfolg nicht zu gefährden. Doch dieser Weg führt ins Nichts, sagt Bacon.

"Wer Hasspostings versendet, hat von sich selbst kein liebenswürdiges Bild"
Interview mit dem deutschen Psychiater und Autor Manfred Lütz im Cafe Diglas. Wien, am 11.01.2017

Haben Sie aus diesen Begegnungen etwas für Ihr Leben gelernt?

Sehr viel und das geht vielen so, die das Buch gelesen haben. Bacon hat nach dem Krieg beeindruckende Menschen kennengelernt, die ihm den Glauben an die Menschheit wiedergegeben haben. Und diesen Glauben müssen auch wir an Menschen in Not weitergeben. Unser Dorf im Rheinland ist glücklicher seit wir Flüchtlinge haben, denn viele, die sonst nur für sich gelebt haben, geben jetzt Deutschkurse, begleiten Flüchtlinge zum Arzt und zu Behörden. Natürlich können wir nicht alle Wirtschaftsflüchtlinge aus aller Welt aufnehmen, da muss die Politik handeln. Aber in meiner persönlichen Begegnung gehe ich genauso respektvoll mit Wirtschaftsflüchtlingen um wie mit den anderen, denn wenn ich in Afrika leben würde, wäre ich sicher auch ein Wirtschaftsflüchtling. Und wenn da jemand unter Lebensgefahr über das Mittelmeer kommt, um seine Familie zu ernähren, dann ist das keine unmoralische Motivation. Achtsamkeit lehrt uns Bacon – achtsam gegenüber Menschen am Rand zu sein, und sich nicht abzuwenden.

Manche machen hinter dem Computer genau das Gegenteil, verbreiten Hass und Aggression.

Wer solche Hasspostings versendet, hat auch von sich selbst kein liebenswürdiges Bild, beschädigt und erniedrigt auch sich selbst – denn wer schaut schon gerne sein eigenes hassverzerrtes Gesicht im Spiegel an. Man fühlt sich selbst hässlich, und das verstärkt die Aggression. Nur wenn man solchen hassenden Menschen nicht mit demselben Hass begegnet, kann man etwas ändern.

Gibt es so etwas wie eine Lebensmaxime von Bacon?

Als er noch Professor an der Kunstakademie in Jerusalem war, kam eine Schülerin zu ihm: "Ich habe Krebs, mein Arzt sagt, ich werden nur mehr drei Wochen leben." Als die Frau einen Rat wollte, sagte Bacon zu ihr: "Lebe dafür, solange du kannst bei den anderen noch ein Lächeln zustande zu bringen."

Manfred Lütz Psychiater, Psychotherapeut und Theologe. Er ist Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln und Autor mehrerer Bestseller, zuletzt etwa „Wie sie unvermeidlich glücklich werden. Eine Psychologie des Gelingens“ – ein „Anti-Ratgeber“ gegen das professionelle Besserwissertum der „Glücksbücher“. Ebenfalls ein Bestseller war „Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitnesskult“. Seit 1981 engagiert er sich für eine integrative Gruppe von rund 200 Menschen mit und ohne Behinderungen in Bonn und seit zwei Jahren auch für Flüchtlingsfamilien in seinem Wohnort. Er tritt auch als Kabarettist auf.

"Wer Hasspostings versendet, hat von sich selbst kein liebenswürdiges Bild"
Jehuda Bacon
Jehuda BaconDer israelische Künstler wurde 1929 in Mährisch-Ostrau (Ostrava, Tschechoslowakei, heute Tschechien) geboren. Im Herbst 1942 wurde er mit seiner Familie ins Ghetto Theresienstadt deportiert, im Dezember 1943 in das KZ Auschwitz. Er überlebte zwei Todesmärsche – im Jänner 1945 in das KZ Mauthausen, im März in das KZ Gunskirchen. Dort wurde er im Mai 1945 befreit. Sein Vater wurde in Auschwitz vergast, seine Mutter und seine Schwester Hanna starben wenige Wochen vor der Befreiung im KZ Stutthof. Bacon wanderte nach Israel aus und studierte an der Bezalel-Akademie in Jerusalem, wo er ab 1959 als Professor Grafik unterrichtete.

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