Glutenfrei hilft nicht allen

Glutenfrei hilft nicht allen
Das Kleber-Eiweiß soll Auslöser vieler Darmbeschwerden sein. Oft fehlt aber klare Diagnose.

Darmbeschwerden sind in den vergangenen Jahren fast schon zu einer Epidemie des neuen Jahrtausends geworden, könnte man meinen. Viele führen ihre Beschwerden auf die Ernährung – und immer häufiger – auf das Klebereiweiß Gluten zurück. Und auch der Markt für glutenfreie Produkte wächst zunehmend.

Für die wirklich Betroffenen macht das den Alltag wesentlich leichter. Hertha Deutsch von der österreichischen Arbeitsgemeinschaft Zöliakie beschäftigt sich seit 1981 mit dieser genetisch bedingten Stoffwechselerkrankung, als diese bei ihrem Sohn diagnostiziert wurde. "Damals konnte man sehr vieles nur selbst kochen oder backen, weil das Angebot fehlte."

Heute listet die Datenbank der Selbsthilfeorganisation 10.000 glutenfreie Produkte auf. Dahinter stehe aber "kein riesiger Hype, wie manche meinen". Sondern drei Jahrzehnte Arbeit – "damit von Zöliakie Betroffene sichere Lebensmittel auf dem Markt vorfinden".

Diagnose fehlt oft

Bei einem wachsenden Angebot fällt es aber auch vielen leicht, nur auf ihre eigene Vermutung hin auf glutenfreie Ernährung umzusteigen. Experten sehen diese Entwicklung problematisch. "Wir müssen wegkommen von solchen unkritischen diätetischen Behandlungen", betont Univ.-Prof. Harald Vogelsang, Leiter der Zöliakie-Spezialambulanz an der Wiener MedUni. "Es gibt zwar durchaus Menschen, die von Gluten-Alternativen profitieren, aber sicher nicht von unkritischen Diäten." Zumal diese häufig aufgrund von Selbstdiagnosen oder nicht wirklich aussagekräftigen Lebensmittelunverträglichkeitstests aus dem Internet, die immer häufiger angeboten werden, begonnen werden.

Der Trend zur glutenfreien Ernährung kommt aus den USA. "In der gesamten amerikanischen Bevölkerung wird die Umstellung auf eine glutenfreie Ernährung immer mehr zum ‚Allheilmittel‘", schreibt Alessio Fasano, Leiter des Zentrums für Zöliakie-Forschung am Mass-General Hospital für Kinder in Boston, in seinem Buch "Die ganze Wahrheit über Gluten".

Hertha Deutsch bemerkt auch hierzulande einen "Boom, der mittlerweile bedenkliche Ausmaße annimmt". Eine Diät "nur auf Verdacht hin" habe aber keinen Sinn. "Man muss sich die mögliche Glutenunverträglichkeit genau anschauen – sie also diagnostizieren oder ausschließen. So einfach ist das aber nicht, daher gehört die Behandlung in die Hände von erfahrenen Ärzten."

Verschiedene Arten

Nicht jeder Mensch mit Bauchbeschwerden hat Zöliakie, bei der der Dünndarm nur durch lebenslangen Glutenverzicht regeneriert werden kann. Dass sie häufig mit Weizenallergie oder seit einigen Jahren dem NCGS-Syndrom (landläufig auch Glutensensitivität)verwechselt wird, liegt an den mitunter diffusen Symptomen (siehe Grafik). "Sie überlappen sich und lassen sich daher nur schwer unterscheiden", erklärt US-Experte Allesio Fasano.

"Gerade bei NCGS verbessern sich bei manchen Patienten viele Symptome ", sagt Vogelsang. Das sei derzeit nur durch eine Ausschlussdiät feststellbar. Doch nicht um jeden Preis: "Die derzeit empfohlene Zeitspanne liegt bei sechs Wochen. Spürt man danach keine deutliche Verbesserung, muss man die Diät auch wieder beenden." Sonst können schwere Mangelerscheinungen drohen.

Buchtipp: Alessio Fasano, Susie Flaherry, Die ganze Wahrheit über Gluten. Alles über Zöliakie, Glutensensitivität und Weizenallergie. Südwest-Verlag, 20,60 Euro

Glutenfrei hilft nicht allen

Die Gründe, warum der menschliche Darm bei manchen Menschen so sensibel auf Gluten reagiert, werden weltweit intensiv diskutiert. Fest steht jedenfalls, dass neben einer genetischen Veranlagung auch Umweltfaktoren mitspielen.

Manche Forscher sehen die Gründe der Reaktionen in sich verändernden Abwehrzellen des Immunsystems (T-Zellen). Relativ neu ist die Theorie, dass der Körper über einen anderen Reaktionsstrang reagiert. Dabei wird das angeborene Ur-Immunsystem im Darm durch bestimmte Proteine im Getreide – sogenannte Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATI‘s) – direkt aktiviert. In Tierversuchen zeigte sich, dass sich durch die Reaktionskette bestehende Entzündungs- und Autoimmunreaktionen verstärken können.

ATI’s sind natürliche Abwehrstoffe, die das Getreide vor Schädlingen schützen sollen. Laut manchen Experten hat sich die ATI-Konzentration mancher Getreidesorten durch moderne Züchtungen verstärkt.

Kommentare