Die "g’sunde Watsch’n" lebt

Die "g’sunde Watsch’n" lebt
50 Prozent der Eltern setzen noch immer auf "leichte" Gewalt.

Die „g’sunde Watsch’n macht krank.“ Das sagte der 1989 verstorbene Wiener Arzt und „Kinderschutz-Vater“ Hans Czermak schon vor mehr als 30 Jahren.

Umso nachdenklicher stimmen da Daten aus dem neuen Bericht zur Lage der Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich. 50 Prozent der Eltern bekennen sich heute noch dazu, „leichte“ Formen von Gewalt (etwa Ohrfeigen) als Erziehungsmaßnahmen anzuwenden. 16 Prozent geben überdies „schwere Körperstrafen“ (Po versohlen) zu. Und: Nur 30 Prozent der Eltern ist das gesetzliche Gewaltverbot gegenüber Kindern überhaupt bekannt. Im EU-Musterland Schweden sind es mehr als 90 Prozent. Prim. Klaus Vavrik, Präsident der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit, die den Bericht herausgibt: „Wir brauchen ein noch deutlicheres Bekenntnis der Gesellschaft, dass erzieherische Gewalt ein Unrecht gegenüber Kindern und Jugendlichen ist.“ Faktum sei: „98 Prozent aller Kinder werden physisch und psychisch gesund geboren. Schon einige Jahre später, im Kindergarten, haben wir einen hohen Prozentsatz von Kindern mit psychischen und sozialen Auffälligkeiten.“ Dazu fehlen Betreuungseinrichtungen, um diese Defizite rechtzeitig zu behandeln. Als drittreichstes EU-Land sei Österreich hier Schlusslicht, betont Vavrik.

Gewaltspur im Gehirn

Was läuft in dieser für die kindliche Entwicklung so wichtigen Zeit falsch? „Aus der Neurobiologie wissen wir heute, dass das Kindergehirn höchst sensibel ist“, erklärt Vavrik. Kinder brauchen Liebe und Geborgenheit genauso zum Überleben wie Nahrung und Luft. „Sowohl Bedrohung durch Gewalterziehung, fehlende Sicherheit oder mangelnde Fürsorge erzeugen in einem kleinen Kind Angst und hohen Stress. Dieser Stress hinterlässt Spuren im allen Erfahrungen gegenüber noch völlig offenen Gehirn.“ Sind diese neuronalen Bahnen einmal gelegt, können sie später reflexartig überschießend auf alltägliche Belastungen reagieren. „Das Gehirn strukturiert sich aufgrund seiner Erfahrungen. Misshandlungen, Missbrauch oder Vernachlässigung hinterlassen tiefe Narben in unserem Steuerungselement“, betont der Experte.

Viele dieser enormen Auswirkungen auf das neurobiologische System müssen Eltern und Gesellschaft erst bewusst gemacht werden. Öfters hört man ja: „Mir haben ein paar Watsch’n als Kind auch nicht geschadet.“ Aber: „Was Fachleute als Gewalt bezeichnen, sehen die Betroffenen oft gar nicht so“, sagt Adele Lasselsberger ,Vorsitzende des Bundesverbands der Kinderschutzzentren. „Anschreien, demütigen und ignorieren sind keine Unterstützung eines Kindes auf seinem Weg der Entwicklung und des Lernens.“

In Deutschland ist die Zahl der ADHS-Diagnosen innerhalb von sechs Jahren um 50 Prozent gestiegen. Das zeigt ein Bericht der Barmer Krankenkasse. Danach leiden zwölf Prozent der zehnjährigen Buben und vier Prozent der Mädchen in diesem Alter an dem „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ .

Medikamentös behandelt werden sieben Prozent der Buben und zwei Prozent der Mädchen. Auch in Österreich werden immer mehr Kinder mit ADHS diagnostiziert. Allerdings auf weitaus niedrigerem Niveau. Bei der Wiener Gebietskrankenkasse zählte man 2007 noch 1118 Patienten unter 15 Jahren, die das ADHS-Medikament Ritalin verschrieben bekommen haben. 2011 waren es bereits 1666. Gezählt wurden aber nicht die Diagnosen, sondern nur die Häufigkeit der Medikamentenverschreibung .

Dass es mehr ADHS-Diagnosen gibt, hängt für die klinische Psychologin Sabine Kainz auch damit zusammen, dass Eltern und Lehrer sensibler für das Thema wurden. Allerdings: „ Österreichs Kinder sind nicht mit Ritalin überversorgt. Das zeigt eine aktuelle Studie.“

Eine Diagnose erstellen können nur klinische Psychologen und Kinderpsychiater. Und von denen gibt es in Österreich sehr wenige mit einem Kassenvertrag. Vielleicht ist das ein Grund, warum es im Nachbarland weitaus mehr „unruhige“ Kinder gibt. Denn auch das hat der Bericht gezeigt: Wo es sehr viele Psychiater gibt, gibt es auch viele ADHS-Diagnosen.

Auf den ersten Blick ist die Zahl erschreckend: 50 Prozent der Eltern bekennen sich dazu, Ohrfeigen und andere „leichte Formen der Gewalt“ als „Erziehungsmittel“ anzuwenden. Das meldet die Liga für Kinder- und Jugendgesundheit in ihrem Jahresbericht.

Dass an einer Watsche nichts, aber schon gar nichts, gesund sein kann, ist längst bekannt. Dennoch gibt es da draußen gar nicht wenige Menschen, die öffentlich die Ansicht vertreten: „Mir haben als Kind ein paar Watschen nicht geschadet. Ich glaub’ sogar, manchmal hab’ ich sie verdient.“ Meist folgt darauf ein süffisanter Grinser. Thema beendet.

Diese Form der moralischen Zurechtbiegung entlastet, zumindest für den Moment: Wer sich einredet, seine Eltern hätten richtig gehandelt, erspart sich den oft schmerzhaften Blick auf Gewalterfahrungen in der Kindheit. Die weitverbreitete Ansicht „Eine Ohrfeige ist nicht gleich Gewalt“ bagatellisiert den eigenen Schmerz und relativiert somit die Ohrfeige an sich. So betrachtet, sind die 50 Prozent Watschen-Eltern gar nicht so überraschend hoch.

In Schweden wachsen drei von vier Kindern ohne Watschen auf, in Österreich nur weniger als eines von drei. Mehr als jedes zweite Kind wird – mindestens fallweise – geschlagen. Das geht aus dem Ende Jänner veröffentlichten Bericht über die Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich hervor.
Und das, obwohl Gewalt in der Erziehung seit fast einem Vierteljahrhundert sogar gesetzlich verboten ist. 1989 wurde das im österreichischen Parlament beschlossen. Im selben Jahr übrigens, in dem sich die Staaten in der Generalversammlung der UNO auf die Kinderrechts-Konvention einigten.

Schön, dass es in den vergangenen Tagen auf Twitter und in anderen Medien einen 10-Tausendfachen #Aufschrei gegen erniedrigende und gar gewalttätige Worte und Handlungen gegenüber Frauen gegeben hat und gibt. Wär toll, wenn es einen nicht weniger schwachen Protest gegen noch immer ausgeübte Gewalt gegenüber Kindern gäbe, hoffentlich gibt. Vielleicht der Einfachheit halber #Kinder-Aufschrei genannt?!“

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