124.000 Kinder leben in Österreich unter der Armutsgrenze

Kinderarmut in Österreich: Keine Randerscheinung mehr
Dramatisch: Die Lebenserwartung bei armen Kindern ist um fünf bis acht Jahre geringer.
Von Uwe Mauch

Abends können sie nicht einschlafen. Zu viel geht ihnen da durch den Kopf: Warum haben andere Kinder genug zum Essen? Warum liegen sie heute Abend schon wieder hungrig im Bett? Warum ist es in der Wohnung so kalt? Warum schimmelt es bei uns? Warum müssen die Eltern so lange arbeiten? Warum wird ihnen nie eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen?

Dies ist keine Erzählung des Wiener Sozialreporters Max Winter, der vor hundert Jahren über die Armut im k.u.k.-Wien ausführlich berichtet und später die Organisation der Kinderfreunde gegründet hat. Dies ist ein aktueller Befund aus einem der reichsten Länder der Welt.

Der 6. Bericht zur Lage der Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich, erstellt von den Experten der Österreichischen Kinderliga, lässt wenig Interpretationsspielraum für Schönredner: Es ist erneut verdammt kalt in diesem schönen Land. 124.000 Kinder und Jugendliche sind manifest arm, und weitere 150.000 junge Österreicher sind von Armut bedroht.

"Ihre Armut macht sie krank", weiß Martin Schenk von der Diakonie Österreich, der seit vielen Jahren prekäre Lebenssituationen wissenschaftlich erforscht und dokumentiert. Und die Zeit arbeitet eindeutig gegen sie: "Je früher, schutzloser und länger sie der Armut ausgesetzt sind, desto stärker sind die Auswirkungen."

Sie haben natürlich Namen. Schenk erzählt von Petra, einem 14-jährigen Mädchen. Sie ist das älteste Kind einer Alleinerzieherin, die mit drei schlecht bezahlten Jobs versucht, über die Runden zu kommen. Auch Petra schläft abends nicht ein, lernt wenig, wirkt in der Schule unkonzentriert, wird immer magerer. Aber das ist auch nicht verwunderlich: Sie muss sich um die jüngeren Geschwister kümmern. Niemand kümmert sich um sie.

Moderne Bettgänger

Auch die Auswirkungen von Armut bei Kindern kann der Sozialexperte beschreiben: Wenn er am Stephansplatz in die U3 einsteigt, kann er in wenigen Minuten die Stationen hinter dem Westbahnhof erreichen. Dazwischen liegen jedoch soziale Welten: Im ersten Bezirk, dem wohlhabendsten Bezirk von Wien, leben die Menschen vier, ja sogar fünf Jahre länger als die Bewohner hinter dem Gürtel. Sie leiden dabei auch weniger. Infektionen von armen Kindern werden später behandelt. Laut Studien spüren sie auch länger und intensiver Schmerzen.

Zehn Prozent der Patienten, die nicht krankenversichert sind und in der Armenambulanz AmberMed in der Oberlaaer Straße in Wien 23 behandelt werden, sind minderjährig, sagt Carina Spak. Sie leitet die soziale Einrichtung, die von Diakonie und Rotem Kreuz vor elf Jahren eingerichtet wurde und noch immer beschämend wenig Förderung von Bund und Stadt Wien erhält.

Betroffen macht auch ein Wiener Schuldirektor, der durch Zufall bemerkt hat, dass sich ein Kind an seiner Schule zu Hause das Bett mit einem älteren Bruder teilen muss. Ob es sich hier um einen Einzelfall handelt oder Bettgänger wie zu Max Winters Zeiten erneut zum Armutsphänomen einer Stadt werden, können Pädagogen und Sozialarbeiter derzeit nicht sagen. Aus Scham wird darüber selten geredet. Ausschließen wollen sie es nicht.

Primarius Klaus Vavrik kritisiert indes: "Bei den Gesundheitsausgaben für Kinder und Jugendliche liegen wir deutlich unter dem EU-Durchschnitt." Vavrik, Präsident der Kinderliga, weiß zu berichten, dass der Anteil dafür in Großbritannien fast doppelt so hoch ist.

Recht auf Gesundheit

Der Kinderarzt nimmt unter anderem die Krankenkassen in die Pflicht: Die sollen notwendige Therapien und Heilbehelfe für betroffene Kinder und Jugendliche finanzieren und den Selbstbehalt abschaffen. Denn Kinder hätten laut UN-Kinderrechtskonvention das Recht auf die bestmögliche medizinische Versorgung.

Und dann kann sich Vavrik einen Seitenhieb nicht verkneifen: "In Zeiten des Hypo-Ausschusses darf man fragen, wohin unsere Gesellschaft investiert." Nicht nur die Bank, auch die 14-jährige Petra, ihre Mutter und ihre Geschwister hätten staatliche Unterstützung dringend nötig.

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