Knochen brechen, verlängern, heilen

Gerald Wozasek mit seiner Patientin Aysegül Durmaz
Das Spezialgebiet der Knochenverlängerung entwickelt sich derzeit rasant. Auch im ästhetischen Bereich.

Erst mit 24 Jahren hat Aysegül Durmaz gemerkt, dass was nicht stimmt. Anfangs hatte sie einen steifen Hals. Dann immer stärkere Schmerzen. Irgendwann musste ihr die Familie beim Aufstehen helfen, ihre Mutter oft ihr Kind betreuen. Untersuchungen ergaben nichts, selbst die Übungen bei der Physiotherapie konnte sie nicht mehr machen.

Im Wiener AKH geriet sie an Gerald Wozasek. Der Unfallchirurg und Sporttraumatologe stellte fest, dass ihr rechter Oberarm um fünfeinhalb Zentimeter kürzer war als der linke. Durmaz wollte das nicht wahrhaben, für den Arzt erklärte sich damit aber vieles: "Sie hat diesen Unterschied offensichtlich immer kompensiert, ist schief vor dem Laptop oder am Tisch gesessen und hat sich automatisch auf den linken Arm gestützt." Die Probleme mit der Halswirbelsäule waren eine Folge davon.

Knochen brechen, verlängern, heilen
Gerald E. Wozasek, Knochenverlängerung

Wozasek, der diesen Fall gerade auf dem großen Chirurgen-Kongress in Wien präsentierte, ist auf Knochenverlängerungen spezialisiert und von Durmaz’ Geschichte nicht überrascht: "Es gibt Menschen, die mit 15 Zentimeter Beinlängenunterschied herumlaufen. Dabei gehört das ab zweieinhalb Zentimeter behandelt." Bei Beinen ist die Unterentwicklung von Geburt an häufiger als bei Armen. Am öftesten werden Knochenverlängerungen aber nach traumatischen Verkürzungen, also Unfällen, gemacht. Oder wegen Knochenerkrankungen. Wichtig sei der ganzheitliche Blick auf den Patienten. "Wir machen oft nur Ausschnitt-Röntgen. Da sehe ich aber keine Unterschiede."Knochenverlängerung ist als Fachgebiet relativ jung, entwickelt sich aber schnell. Der zu verlängernde Röhrenknochen wird dabei chirurgisch mit künstlichem Bruch durchtrennt, die Teile mit Abstand fixiert. Knochen wachsen zwar nach der Pubertät nicht mehr, behalten aber lebenslang die Fähigkeit zu heilen. "Der Knochen weiß, dass er einen Bruch mit neuem Material auffüllen muss", erklärt Wozasek. Bei der Verlängerung wird die künstliche Fraktur täglich maximal einen Millimeter auseinandergezogen, das kann der Knochen mit neuem Material auffüllen.

Die Nagel-Revolution

Vor drei Jahren verwendete Wozasek im AKH für die Fixation erstmals in Österreich einen Teleskopnagel. "Dieser Nagel hat die Knochenverlängerung so revolutioniert wie die Arthroskopie die Kniechirurgie. Davor gab es nur die externe Fixation mittels Draht-Ringkonstruktion. Davon halte ich nix, das war immer wieder problematisch", sagt der Universitätsprofessor, der seitdem rund hundert solche Nägel eingesetzt hat. Die Operation sei nun ein chirurgischer Routineeingriff mit professioneller, postoperativer Behandlung. "Das ist wichtig. Denn eine Methode ist nur gut, wenn man sie jedem durchschnittlich begabten Knochenchirurgen in die Hand geben kann." Ein Thema sind die Kosten, der Titan-Nagel kostet 14.000 Euro. Damit kann man maximal acht Zentimeter verlängern. Das kleinste Modell hat 8,5 Millimeter Durchmesser.

Knochen brechen, verlängern, heilen
Gerald E. Wozasek, Knochenverlängerung

Wie jener bei Patientin Durmaz. Bei der heute 33-Jährigen ist nun alles gut. Sie war die erste Oberarmverlängerung mit dem Teleskopnagel, der im Mai 2015 in den Oberarmknochen eingesetzt wurde. Danach musste sie vier Monate lang täglich ein externes Steuergerät exakt positioniert am Arm anlegen. In acht Minuten wurde der Arm so einen halben Millimeter gestreckt. Sie erzählt: "Ich habe gespürt, wie sich die Muskeln dehnen. Danach waren die Schmerzen gleich wieder vorbei." Heute hat sie nur minimale Narben von der OP und den Nagel noch im Arm. "Ich habe noch nicht entschieden, ob ich ihn rausnehmen lassen will." Der Arzt dazu: "Es geht jederzeit, aber da sie keine brutalen Kontaktsportarten macht, ist es nicht notwendig."

Diese Selbstverantwortung ist bei dieser Behandlung wichtig, betont Wozasek. "Durmaz war eine ideale Kandidatin: jung und ohne Schädigung des Gewebes. Aber letztlich muss der Patient das auch intellektuell verarbeiten." Denn es geht bei geplanten Verlängerungen um Körperbewusstsein, die Patienten leben ja schon länger mit der Fehlstellung.

Knochen brechen, verlängern, heilen
Knochenverlängerung AKH Wozasek Durmaz

Not oder Wunsch

Bei traumatischen Verkürzungen spielt das keine Rolle. So wie bei jenem Patienten, der vor sechs Jahren nach einem Unfall mit 26 Zentimeter eine Rekordverlängerung bekam (siehe unten).

Die Kooperationswilligkeit eines Patienten ist auch wichtig, weil es manchmal wegen Sensibilitätsstörungen nötig ist, den Teleskopnagel wieder ein wenig zurückzufahren. Und sie hat viel damit zu tun, wie stark jemand unter seiner Verkürzung leidet. Wozaseks bisher ältester Patient konnte mit 74 Jahren erstmals ohne Schuhausgleich gehen, nachdem eine angeborene Unterschenkelverkürzung behoben werden konnte. "Früher verstand solche Sorgen keiner. Als ich in den 1990er-Jahren damit angetreten bin, sagten viele Kollegen: Schneid’ einfach den anderen kürzer. Aber das geht schon wegen der Muskelspannung nicht." Die Behebung einer Fehlstellung sei aber besonders im Beinbereich wichtig, weil sich das Problem über die gesamte Gelenkskette ausbreitet: Knie, Hüfte, Wirbelsäule.

Mit den neuen, weniger invasiven Möglichkeiten in dieser Disziplin wächst auch das Interesse im ästhetischen Bereich. Die Grenzen verschwimmen, wann eine Fehlbildung ein medizinisches, ein psychisches oder ein rein optisches Problem ist. Lange Beine gehören ebenso zum Schönheitsideal wie Brüste und glatte Haut.

Wozasek kennt das Thema, das allerdings in Österreich noch keines ist. Vor allem, da die Kosten selbst zu tragen sind. "Inklusive Material- und Operationskosten kostet das rund 20.000 Euro." Pro Bein und acht Zentimeter. "Man muss das jedenfalls vorher psychologisch abklären. Die Proportionen verändern sich – zwischen Unter- und Oberschenkel oder Beinen und Armen – und die müssen nachher auch noch passen." Und es bleibt das übliche Risiko jedes chirurgischen Eingriffs, wobei ein Facelifting schmerzhafter sei.

Beliebt ist die ästhetische Knochenverlängerung schon bei Chinesen, die gerne an der US-Westküste operiert werden, wo Wozasek wie auch in Israel oft hospitiert. "In den beiden Ländern ist man auf dem Gebiet auch am innovativsten." Weshalb vor allem in den USA schon die nächsten Schritte erforscht werden. "Das betrifft vor allem Knochenbiologie und -heilung. Der Knochen muss nach der Verlängerung ausreifen, das dauert derzeit noch recht lange." An Verbesserungen wird eifrig gearbeitet. Aber das ist Zukunftsmusik. Noch.

Fachbegriffe

Die Knochenverlängerung (Kallusdistraktion) ist die künstliche Verlängerung von langen Röhrenknochen wegen Fehlstellungen oder nach Unfällen. Dabei wird eine chirurgisch gesetzte Fraktur (Osteomie) extern oder mit Verlängerungsmarknägeln fixiert.

Rekordeingriff

2010 wurden nach einem Mopedunfall beim damals 15-jährigen Patrick K. 26,5 Zentimeter des Oberschenkels abgetrennt. Durch Kombination von Verlängerung mit äußerem Drahtgestell und anschließender Nagelung stellte Wozasek inner- halb von acht Monaten das Bein wieder her. Bei dieser längsten Verlängerung Europas wurde der längste je verwendete Nagel der Welt eingesetzt – 90 Zentimeter lang. (siehe Foto)

Knochen brechen, verlängern, heilen
Knochenverlängerung AKH Wozasek Kerschl

Kommentare