Woran es sich in Griechenland wirklich spießt

Maroni-Verkäufer vor dem Parlament in Athen
Aktuell droht kein Grexit – die Lage der Bevölkerung ist dramatischer als die der Finanzen.

Die Meldungen klingen, als drohte Griechenland abermals ein Rausschmiss aus dem Euro. Wie brisant ist die Lage? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.

Brauchen die Griechen schon wieder mehr Geld?

Nein. Die Hilfen, um die sich der jüngste Streit dreht, gehören zum dritten Hilfspaket, das 2015 beschlossen wurde und mit bis zu 86 Milliarden Euro veranschlagt war – es dürfte deutlich kleiner ausfallen. Die Auszahlung erfolgt aber in Tranchen und ist an Bedingungen geknüpft. Und da wollen die Geldgeber noch mehr Reformen sehen.

Ist die Lage so dramatisch wie im Sommer 2015?

Ganz und gar nicht. Damals saßen die Griechen völlig auf dem Trockenen. Jetzt sei das Thema nicht "super-dringlich", sagte Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem am Dienstag: "Es gibt kein Liquiditätsproblem für die Regierung in Athen."

Woher kommt dann die große Aufgeregtheit?

Die Geldgeber sind zerstritten. An der Finanzierung des dritten Hilfsprogramms hat sich der Internationale Währungsfonds (IWF) bisher nicht beteiligt. Sollte er komplett aus der einstigen Troika, dem Dreigestirn der Prüforganisationen, ausscheren, so wäre heikel, weil dann der deutsche Bundestag sein Okay für die Griechenland-Hilfe widerrufen könnte.

Und: In Deutschland, Frankreich und den Niederlanden wird heuer gewählt. Weil eurokritische Rechtspopulisten in den Umfragen im Aufwind sind, wollen die Regierungen Härte signalisieren.

Wann ist das nächste heikle Datum?

Im Juli müssen die Griechen Kredite zurückzahlen. Verschuldet sind sie aber fast nur noch bei der Europäischen Zentralbank (EZB), dem Rettungsschirm (ESM) und IWF – das Geld wandert quasi von der linken in die rechte Tasche. Ein Zahlungsausfall würde somit wohl kaum eine Eskalation auslösen, weil keine Banken oder Investoren involviert sind.

Hat die griechische Regierung zu wenig gespart?

Ganz im Gegenteil. Die Budgetvorgaben werden derzeit sogar übererfüllt. Der IWF kritisiert aber, dass zu viel und am falschen Platz gekürzt wurde. Weil die Ausgaben querbeet mit dem Rasenmäher gestutzt wurden, fehle das Geld dort, wo es dringend nötig wäre – für die Unterstützung der Ärmsten, für Medikamente oder Spritzen in den Spitälern.

Wie ist die Lage für die griechische Bevölkerung?

Dramatischer als in den USA der 1930er ("Große Depression"): Die Wirtschaftsleistung ist seit der Krise um 25 Prozent geschrumpft. Jetzt soll das Wachstum anziehen, aber die Arbeitslosigkeit ist kaum (von 28 auf 23 Prozent) gesunken. Allein in Athen sind 11.000 Familien für die Essensausgabe bei Suppenküchen registriert (siehe Reportage unten). Gut jeder fünfte Grieche ist laut EU-Daten in einer "schweren materiellen Notlage".

Was verlangen die Geldgeber denn jetzt noch?

Die Griechen sind Reformen, die langfristig Wachstum bringen sollten, schuldig geblieben, weil sich mächtige Lobbys dagegen sperren – ähnlich wie bei der Gewerbeordnung in Österreich. Diskutiert wird jetzt über Reformen im Arbeitsmarkt, Steuersystem und bei den Pensionen. Die Arbeitslosen und der angestellte Mittelstand seien übermäßig getroffen worden – es zahlen zwar nur sehr wenige Griechen Steuern. Die dafür übermäßig viel.

Worum dreht sich der Streit der Geldgeber?

Der IWF hält die Prognosen für zu optimistisch und glaubt nicht, dass die Griechen viele Jahre hindurch hohe Budgetüberschüsse erzielen können. Und er will, dass die europäischen Geldgeber den Griechen einen Teil der Schulden nachlassen.

So viele Geldspritzen – und Athens Schulden sind höher denn je. Wie das?

Die Staatsschulden sind gerade wegen der Hilfskredite auf 183 Prozent des BIP hochgeschnellt. Allerdings werden dafür kaum Zinsen verrechnet, das macht die Last verkraftbar. Und die Laufzeit beträgt im Schnitt 32,5 Jahre, die Rückzahlung liegt also großteils in weiter Ferne.

Woran es sich in Griechenland wirklich spießt
People are reflected on a painting of an icon as they eat at a soup kitchen run by the Orthodox church in Athens, Greece, February 15, 2017. REUTERS/Alkis Konstantinidis "POVERTY GREECE" FOR THIS STORY. SEARCH "WIDER IMAGE" FOR ALL STORIES.
In ihrem Arbeitsleben hat die griechische Rentnerin Dimitra Nahrungsmittel im Auftrag des Roten Kreuzes verteilt. Heute ist sie selbst auf Lebensmittelspenden angewiesen: Etwas Reis, zwei Packungen Nudeln, Kichererbsen, einige Datteln und eine Dose Milch - das ist ihre Ration für diesen Monat, die sie an einer Athener Tafel für Bedürftige abholt.

Die 73-jährige, die ihren Nachnamen aus Scham nicht nennen will, hätte sich nie vorstellen können, einmal selbst auf Hilfe für Bedürftige angewiesen zu sein: „Ich habe sparsam gelebt, war nie im Urlaub. Nichts, nichts, nichts“. Von den 332 Euro Rente, die sie im Monat zur Verfügung hat, braucht sie die Hälfte für die Miete ihrer winzigen Athener Wohnung. Von dem Rest muss sie Rechnungen bezahlen.

Tsipras: "Opfer im Namen Europas"

Die milliardenschweren Rettungspakete der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds haben das Land zwar vor dem Staatsbankrott bewahrt. Allerdings bedeutete dies vor allem neue Schulden, die zur Tilgung der alten angehäuft wurden.

Vor allem aber hat das von den Geldgebern den Griechen auferlegte Sparprogramm dazu beigetragen, das Land von einer Rezession in eine Depression hinabzudrängen. Die Linksregierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras hat versucht, die soziale Notlage in den jüngsten Verhandlungen mit den Geldgebern als Argument ins Spiel zu
bringen. „Wir müssen alle sorgsam mit einem Land umgehen, das ausgeplündert wurde und dessen Volk weiterhin so große Opfer im Namen Europas bringt“, sagte Tsipras kürzlich.

Jeder Fünfte in Notlage

Nach sieben Jahren Reformen hat sich die soziale Lage in Griechenland nicht gebessert - im Gegenteil. Die Armut wächst derzeit wie in kaum einem anderen EU-Land. Nur in Bulgarien und Rumänien ist die Armutsquote höher.

Statistische EU-Daten zeigen, dass sich 22,2 Prozent der griechischen Bevölkerung in einer „schweren materiellen Notlage“ befinden. Während die Armutsquote in der gesamten EU leicht rückläufig war - in den postkommunistischen Balkanstaaten fiel sie sogar stark - hat sie
sich in Griechenland seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 fast verdoppelt.

Schlangen vor den Suppenküchen

Die Realität hinter den Statistiken wird an Orten wie der Athener Essensausgabe deutlich, wo Dutzende Griechen mit einem Ticket in der Hand in einer Schlange stehen, um Lebensmittel abzuholen. Alle von ihnen leben unter der Armutsgrenze von 370 Euro monatlich. „Der Bedarf ist riesig“, sagt Eleni Katsouli, die als kommunale Angestellte für die Einrichtung verantwortlich ist.

Bei den Athener Tafeln sind 11.000 Familien - 26.000 Menschen, darunter 5000 Kinder - registriert. Im Jahr 2012 waren es 2500 Familien. Was die Tafeln an Bedürftige ausgeben können, hängt davon ab, was Spender ihnen zur Verfügung stellen. Dies sind oft Unternehmen, die sich selbst in einer schwierigen Lage befinden. Häufig reicht es nicht aus.

Obdachlose in ganz Athen

„Wir haben Familien mit jungen Kindern hier, denen wir an manchen Tagen nicht einmal Milch geben können“, sagt Katsouli.Die Arbeitslosigkeit ist zwar vom Spitzenwert 28 auf 23 Prozent gefallen, bleibt aber die höchste in der EU. Seit Beginn der Krise mussten Tausende Betriebe schließen, die Wirtschaft ist um ein Viertel geschrumpft. 75 Prozent der Haushalte hatten im letzten Jahr deutlich weniger Geld zur Verfügung, etliche müssen bei Lebensmitteln sparen und können ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen.

Im gesamten Athener Stadtgebiet leben mittlerweile Obdachlose auf den Straßen. Freiwillige mit einem Lieferwagen und zwei Waschmaschinen helfen ihnen, ihre Kleidung zu waschen. „Man sieht immer dieselben Gesichter, aber auch viele neue“, sagt Fanis Tsonas, der die mobile Wäscherei für Obdachlose mitgegründet hat.

Pension: 600 statt 980 Euro

„Das ganze Land macht eine sehr schwere Zeit durch“, sagt Eva Agkisalaki, eine ehemalige Lehrerin, die nun ehrenamtlich in einer Suppenküche der orthodoxen Kirche in Athen aushilft. Die 61-jährige hat keinen Anspruch auf Rente, da ihr Vertrag auslief, als das Rentenalter im Zuge des Reformprogramms auf 67 Jahre angehoben wurde. Arbeit fand sie keine mehr.

Die Rente ihres Mannes wurde von monatlich 980 auf 600 Euro gekürzt. Mit einem Teil davon helfen sie den Familien ihrer Kinder über die Runden. Die Lebensmittel, die sie im Ausgleich für ihre ehrenamtliche Arbeit erhält, teilt sie mit ihrer arbeitslosen Tochter und ihrem Sohn. „Wir vegetieren dahin“, sagt sie, „wir existieren nur noch. Die meisten Griechen existieren nur noch.“

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