Vermisstensuche auf Chinesisch

Vermisstensuche auf Chinesisch
Ai Weiwei: Wie die 80-jährige Mutter des Dissidenten lernte, mit dem Internet umzugehen, um ihren Sohn zu finden. Heute ist er frei

Es war ein Schock, auf den eine fürchterliche Zeit folgte. Als die chinesischen Behörden im vergangenen Jahr den Künstler und Regierungskritiker Ai Weiwei festsetzten, wusste auch seine Familie nicht, was mit dem 54-Jährigen geschehen war. "Ich bin fast verrückt geworden, ich dachte, er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben", erinnert sich Ai Weiweis Mutter Gao Ying jetzt im Gespräch. "Ich sagte mir einerseits: Naja, wenn er etwas Schlimmes gemacht hat, dann muss er vor Gericht gestellt und angeklagt werden." Aber daran konnte sie irgendwann nicht mehr glauben. Denn die Familie hörte nichts von den Behörden: "Es hieß immer nur, zwei Männer haben Ai Weiwei mitgenommen. Es hat mich fast in den Wahnsinn getrieben."

Ungewissheit

Mit ihren 80 Jahren ist Ai Weiweis Mutter eine rüstige Frau. Sie liest viel und empfängt in ihrem traditionellen Wohnhaus im Zentrum Pekings häufig Besuch. Im vergangenen Jahr litt sie vor allem unter der Ungewissheit über das Schicksal ihres mittlerweile unter strengen Auflagen freigelassenen Sohnes. Sie war unruhig, nervös, konnte nicht tatenlos bleiben. Gao Ying hatte bereits mehrmals von den Möglichkeiten des Internets gehört. Sie wusste, dass über 200 Millionen Chinesen im Internet Nachrichten verfassten, bei sogenannten Mikroblogs. Auch sie ließ sich ein Konto einrichten, drei Tage nach Ai Weiweis Festnahme stellte sie eine Nachricht online. "Ich schrieb: Mein Sohn ist am 3. April am Pekinger Flughafen verschleppt worden, bitte helft mir, meinen Sohn zu finden", erinnert sie sich. "Dann habe ich meine Handynummer noch dazugeschrieben." Zehn Minuten später klingelte ihr Telefon. Journalisten aus der ganzen Welt riefen an, um sie zu interviewen. "Ich hatte ja gar nicht gewusst, dass das Internet so rasch ist", sagt Gao Ying.

Die alte Dame sitzt in ihrem Wohnzimmer vor der Büste ihres 1996 verstorbenen Ehemannes Ai Qing, dem Vater von Ai Weiwei. Die gesamte Familie machte während der vergangenen Jahrzehnte ein hartes Leben durch. In den 1940er- und 50er-Jahren war der Vater, ein Dichter, zunächst ein begeisterter Kommunist und enger Weggefährte Mao Zedongs gewesen. Doch 1958 wurde er ins Exil in die nordwestliche Provinz Xinjiang verbannt. Im Zuge einer politischen Säuberungsaktion warf man ihm wie Tausenden anderen Intellektuellen Kritik an der Partei vor. "Das hat Weiwei natürlich sehr verletzt und einen Schatten auf seine Kindheit geworfen. Unsere Familie gehörte zu den Feinden der Revolution, die anderen Kinder haben auf Weiwei herabgeschaut, er wurde ganz oft verlacht und ausgegrenzt", erzählt Gao Ying.

Im bitterarmen und klimatisch harten Norden des Landes musste die Familie fortan unter unvorstellbaren Bedingungen hausen – in einem Erdloch, das nur mit Blättern und Zweigen abgedeckt wurde. "Es gab damals eine Organisation, das war so eine Art rote Pioniere. Es war eine große Auszeichnung, da mitmachen zu dürfen. Weiwei wollte natürlich auch mit dabei sein, aber seine Schulkameraden ließen ihn nicht, sie sagten: Ai Weiwei hat seinen Vater nicht genug ausspioniert, er hat seinen Vater nicht hart genug kritisiert."

 

Willkür

Ai Weiweis Vater Ai Qing hatte in seiner Jugend in Paris Kunst studiert. Später gehörte er zu einem angesehenen Kreis einflussreicher Intellektueller. Nach seiner Verbannung, im Exil, aber wurde er regelmäßig gedemütigt. Täglich musste die Familie mitansehen, wie der Vater – oft unter Hohn und Spott – die öffentlichen Toiletten zu putzen hatte. "Es ist fast ein Wunder, dass wir diese harte Zeit überlebt haben, ein normaler Mensch wurde zum Tier. Es gab keine Gerechtigkeit, gar nichts, plötzlich konnte man von anderen niedergemacht werden", erinnert sich Gao Ying heute kopfschüttelnd. Insgesamt 18 lange Jahre verbrachte die Familie auf dem Land. "Dass sich Weiwei heute für die Benachteiligten einsetzt und für mehr Gerechtigkeit kämpft, liegt natürlich daran, dass er am eigenen Leib diese Willkür erfahren hat. Das ist ein Grund, weshalb er Gleichheit, Demokratie und Rechtssicherheit fordert."

Gao Ying ist stolz auf ihren Sohn, das merkt man ihr an. Im vergangenen Jahr erfuhr sie, dass er auch im Ausland eine Rolle spielt. Da Chinas Medien Ai Weiwei totschweigen und seine Texte im Internet zensieren, hatte sie auf die Resonanz ihrer Online-Nachricht zunächst mit Erstaunen reagiert. Gleichzeitig war ihr Interesse geweckt. Sie ließ sich beibringen, wie man am Computer Chinas Firewall überwindet. Dann begann sie, auf ausländischen Webseiten zu surfen: "Plötzlich sah ich: Die ganze Welt kümmert sich und reagiert auf die Verhaftung meines Sohnes." Das sei ihr vorher nicht klar gewesen, diese Erkenntnis habe sie beruhigt: "In China ist es ja normalerweise so: Sobald jemand die Regierung kritisiert, versucht sie, diese Leute zum Schweigen zu bringen. Aber Weiweis Unterdrückung führte dazu, dass der Regierung ein dicker Stein auf den Fuß gefallen ist. Denn plötzlich blickte die ganze Welt nach China und beobachtete die Entwicklung."

 

Enttäuscht

Nach der Rehabilitierung des Vaters von Ai Weiwei Ende der 70er-Jahre hielten Chinas Spitzenpolitiker wieder Kontakt zur Familie. Im Wohnzimmer der Witwe hatte jahrelang eine Fotografie ihren Platz, die sie im Gespräch mit Chinas Staatspräsident Hu Jintao zeigte. Bitter enttäuscht über die Festnahme ihres Sohnes nahm Gao Ying das Foto im vergangenen Jahr jedoch von der Wand. Bis heute hat sie die Stelle, an der das Bild so lange hing, kahl gelassen.

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