US-Ökonom Heckman: "Fakten interessieren keinen mehr"

James Heckman wurde das Ehrendoktorat der Wirtschaftsuniversität Wien verliehen.
Der Nobelpreisträger im KURIER-Interview: Über Ungerechtigkeit, Trump und Gefahren für die Demokratie.

Der Grundstein für ein erfolgreiches Leben wird im frühesten Kindesalter gelegt, belegen die Forschungen des US-Ökonomen und Wirtschaftnobelpreisträgers James Heckman: Je früher man also benachteiligte Kinder fördert, desto besser.

KURIER: Unsere Kinder sollten es einmal besser haben als wir. Heute ist das nicht mehr so sicher. Was wurde aus dem "amerikanischen Traum"?

James Heckman: Diese Muster gibt es in vielen westlichen Staaten, nicht nur in den USA. Typische Mittelschicht-Jobs in Fabriken und Routinearbeiten sind weg. Ein Grund ist die Automatisierung, ein anderer der globale Handel. Und die Wachstumsraten, von denen die breite Bevölkerung profitiert, sind geringer. Das schmälert die Möglichkeiten für sozialen Aufstieg. Besonders ganz oben und unten in der Verteilungskurve gilt: Wie es dem Vater ging, so auch dem Sohn. Wie der Familie, so dem Kind.

Ist die Globalisierung schuld?

Nein. Handel spielt zwar eine Rolle, aber noch stärker wirkt sich der Technologiewandel aus. Die Automatisierung macht Individuen auf dem Arbeitsmarkt verletzlich, weil ihre Dienste weniger benötigt werden als vor 40 Jahren. Dabei zeigen die Daten gar nicht so eindeutig, dass die Aufstiegschancen im Durchschnitt schlechter geworden wären. Aber am unteren Ende, bei den am stärksten Benachteiligten, ist das definitiv so. Das gilt allerdings nicht für China oder Indien und etliche Länder Afrikas: Dort findet tatsächlich noch ein sozialer Aufstieg statt.

Und würden wir 150 oder 200 Jahre zurückschauen, erhielten wir vermutlich auch ein anderes Bild. Damals war die Industrialisierung mit ihren Fabrikjobs für viele Kleinbauern ein Befreiungsschlag aus der Abhängigkeit. Wir stecken also in einer Art technologischem Zyklus.

Sie loben Österreich, weil es weniger Ungleichheit gibt als anderswo. Wir haben aber eine extrem hohe Steuerquote. Gibt es Grenzen der Umverteilung?

Zu Österreich habe ich leider keine allzu guten Daten, aber Dänemark kenne ich sehr gut. Dort hängt das Einkommen der Kinder viel weniger als in den USA davon ab, wie viel die Eltern verdient haben. Ihr Bildungsstand unterscheidet sich aber nicht. Also ist der Grund für die geringere Ungleichheit in Dänemark nicht etwa sozialer Aufstieg, sondern es sind die Steuern und Transfers. Das hohe Maß an Umverteilung gibt dabei sogar falsche Anreize: Sie verhindert nämlich, dass benachteiligte Menschen sich bessere Fähigkeiten aneignen.

Die große Frage ist nun: Will man Ungleichheit einfach über hohe Transferzahlungen verringern? Oder sollen die Menschen selbst in der Lage sein, Erfolg zu haben und unternehmerisch zu handeln?

Sollten wir demnach eher über Chancengleichheit diskutieren?

Genau. Ich nenne das Bevor-teilen statt Umverteilen (Wortspiel mit predistribution/redistribution, Anm.). Nicht die Geburtslotterie soll entscheiden, wer in die richtige Familie geboren ist, sondern Kinder sollen gleiche Startvoraussetzungen haben. Und sie sollen nicht vom Staat abhängig sein.

Welche Förderung funktioniert am besten; früher in den Kindergarten? Kleinere Schulklassen?

Nein, entscheidend ist etwas ganz anderes. Kinder entwickeln sich über die Interaktion. Zwischen Eltern und Kind, Lehrer und Schüler, Mentor und Praktikant. So wie wir gerade sprechen – wir gestikulieren, haben Augenkontakt, hören den anderen und reagieren darauf. Überraschenderweise ist es genau das, was den benachteiligten Kindern fehlt. Wie es passiert, ist nicht so wichtig.

Wenn es so einfach wäre, warum werden Kleinkinder nicht mehr gefördert? Weil es erst in zwanzig Jahren Resultate bringt und sich für Politiker nicht auszahlt?

Das glaube ich gar nicht, auch ein Kraftwerk oder Flughafen rentiert sich erst über Jahrzehnte. Vielleicht spielen Budgetzwänge dabei eine Rolle. Der wahre Grund liegt aber wohl tiefer: Viele Menschen haben Angst, wenn sich der Staat einmischt. Dabei ist das ein Missverständnis. Niemand will Kinder indoktrinieren wie in der DDR oder Sowjetunion, das war unproduktiv und fatal. Im Gegenteil: Die Eltern benachteiligter Kinder sollen bestärkt werden – diesen Familien soll eine intensivere Beziehung ermöglicht werden.

Zurück in die USA: Sie haben Barack Obama als schwachen US-Präsidenten bezeichnet.

Ja, dabei bleibe ich. Ich schätze Obama, er ist höchst eloquent, hat es aber selten geschafft, Kompromisse zu schmieden. Ich bin aber nicht überzeugt, dass Trump besser wird. Niemand weiß, wofür er steht. Sogar Mitglieder seines Kabinetts sagen unter Eid aus, dass sie ihm widersprechen werden. Schwer abzuschätzen, wie sehr sich Trump unter Kontrolle hat. Im Moment testet er die Grenzen aus. Die Gefahr ist, dass er dabei rote Linien überschreitet und Kriege oder Handelskonflikte auslöst.

Sein Versprechen war, den USA zu alter Größe zu verhelfen.

Trump wird es schwer haben, die Industrie jener Regionen wiederzubeleben, die ihm die Wahl gewonnen haben. Selbst wenn er den ganzen Handel mit dem Ausland abwürgt, bringt das die Jobs nicht zurück. Womöglich ist ihm also nur eine Amtszeit vergönnt. Dabei gäbe es Spielraum für Reformen, etwa bei der Überregulierung für kleine Firmen. Oder bei Obamas Gesundheitsversicherung.

Manche glauben, Trump könnte alle überraschen und erfolgreich sein wie Ronald Reagan.

Unterschätzen Sie eines nicht: Reagan war ein hervorragender Kommunikator und eine viel umsichtigere Person. Die Menschen haben ihm vertraut - das fehlt Trump. Reagan war davor acht Jahre lang Gouverneur in Kalifornien und umgeben von Politprofis.

Aber Trump ringt doch der Autoindustrie Zugeständnisse ab, Jobs im Land zu halten, oder?

Das ist plakativ, aber funktioniert so nicht. Einige Arbeitsplätze bleiben dadurch vielleicht im Land. Aber 35 Prozent Strafzoll für Produkte aus Mexiko, das ist verrückt! Viele Güter, Autos, Klimaanlagen werden dadurch teurer. Das soll den Armen und der Mittelschicht helfen? Das ist nicht durchdacht. Am Beispiel Lateinamerika lässt sich gut studieren, wohin es führt, wenn man Importe aus dem Ausland im eigenen Land ersetzen will. Das hat unglaubliche Verzerrungen verursacht: die Ineffizienz war enorm, die Preise sind stark gestiegen. Trump scheint das nicht zu wissen. Anfang der 1930er-Jahre wurde die Abschottung vom Handel schon einmal für eine effiziente Politik gehalten. Wir wissen, dass das gescheitert ist. Warum sollte es heute funktionieren?

Sehen Sie denn eine Bedrohung für unsere offene Gesellschaft und liberale Demokratien?

Absolut. Wir sind gerade in einer Phase extremer Ängste und Unsicherheit. Meine größte Sorge: Niemand achtet mehr auf Fakten. Dabei beruht Demokratie darauf, dass Menschen sich an nachweisbaren Fakten orientieren, Ideen austauschen, diese debattieren. Auch die Medien betreiben Rachefeldzüge. Keine Ahnung, ob der Vorwurf mit Trump und den russischen Prostituierten stimmt. Aber wird das unser Diskussionsniveau für die nächsten vier Jahre sein? Sehr traurig.

US-Ökonom Heckman: "Fakten interessieren keinen mehr"
Interview mit dem amerikanischen Ökonomen und Wirtschaftnobelpreisträger James Heckman am 16.01.2017 in Wien. Am Vorabend wurde ihm das Ehrendoktorat der Wirtschaftsuniversität Wien verliehen.

Zur Person: James J. Heckman

wurde 1944 in Chicago geboren, wo er seit 1973 an der Uni unterrichtet. Den Nobelpreis erhielt er 2000 für Analysen über problematische Statistiken. Seine Forschungen über Ungleichheit und soziale Mobilität umfassen Wirtschaft, Psychologie, Genetik und Neurologie. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Heckman war auf Einladung der Wirtschaftsuniversität Wien in Österreich.

KURIER-Interview mit James Heckman, 16. Oktober 2013

Sehr tröstlich: James Heckman hält die PISA-Ergebnisse für völlig überbewertet. „Sie erzählen nur einen Teil der Geschichte, und nicht einmal den wichtigsten“, sagte der US-Ökonom bei einem Vortrag an der Wirtschaftsuni Wien. Die OECD-Schulstudie sorgt regelmäßig für Aufregung, wenn Österreichs Schüler in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften mäßig abschneiden.

Diese kognitiven Fähigkeiten sagten aber wenig darüber aus, ob ein Mensch später Erfolg haben werde oder nicht. Auch der Intelligenz-Quotient (IQ) spiele keine große Rolle: Nur drei Prozent des lebenslangen Einkommens ließen sich auf diesen Faktor zurückführen.

Was zählt dann? Die Bedeutung sozialer und emotionaler Kompetenz werde unterschätzt. Werden die Kinder gefördert, lasse sich ihr weiterer Lebensweg mit hoher Zuverlässigkeit vorhersagen. „Und diese Fähigkeiten sind bei der Geburt nicht in Stein gemeißelt“, betonte Heckman. Das sei nämlich keine Sache der Gene, sondern eines Umfeldes, das sie in der Entwicklung unterstützt.

So hat ein Dreijähriger, der in einer mustergültigen Familie aufwächst, einen Wortschatz von 1100 Wörtern. In sozial benachteiligten Familien sind es nur 500. Der Grund: Es wird weniger mit den Kindern gesprochen. Und sie kriegen öfter Verbote zu hören als bestätigende Worte.

US-Ökonom Heckman: "Fakten interessieren keinen mehr"
Heckman hat über Jahrzehnte verfolgt, was aus den Kindern wurde. Die Zusammenhänge sind verblüffend. Die Wahrscheinlichkeit, dass geförderte Kinder als Teenager schwanger werden, ist geringer. Ebenso ihr Risiko, auf die schiefe Bahn zu geraten oder drogenabhängig zu werden. Sie erzielen höhere Schulabschlüsse, haben bessere Jobs und ein höheres Einkommen. Und in der Folge ist sogar die Gefahr von Fettleibigkeit und Bluthochdruck geringer.

Wen die humanitären und sozialen Argumente noch nicht überzeugen, für den hat die Heckman-Kurve (Grafik) rein ökonomische Gründe parat: Die frühkindliche Förderung erspare dem Staat hohe Folgekosten und bringe ihm mehr Steuern. Das entspreche einer jährlichen Rendite zwischen 6 und 10 Prozent.

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