Taiwan: Im Schatten des Drachens

Taiwan: Im Schatten des Drachens
Wirtschaftlich sehr erfolgreich, diplomatisch kaum anerkannt, versucht sich die Insel mit dem Giganten China zu arrangieren.

Sie sind auf den Straßen von Taipeh nicht zu übersehen – Männer und Frauen, die bunte Fähnchen und Stofftiere an Stöcken, Schirmen und Stäbchen schwenken, um Scharen chinesischer Touristen durch Taiwans vor Geschäftigkeit vibrierende Hauptstadt zu führen. Ob vor den kostbaren Jade-Schnitzereien im Palast Museum oder vor dem schnellsten Lift der Erde, der Besucher in 40 Sekunden 382 Meter hoch auf die Besucherplattform des Hochhauses Taipeh 101 katapultiert – überall drängeln sich die "Festländler", wie viele Taiwanesen sie ein wenig abschätzig nennen, lärmen, lachen und fotografieren, was der Auslöser hergibt.

Taiwan: Im Schatten des Drachens

Noch vor wenigen Jahren hätte diese Invasion aus Rotchina für Aufsehen gesorgt, doch mittlerweile revidieren die Taiwanesen so manches Vorurteil. Galten die Verwandten vom Festland früher als laut, ungehobelt und schlecht angezogen, so schätzt man sie heute als Geldbringer, die die 3-Sterne-Hotels füllen und in manchen Geschäften einkaufen, als gäbe es kein Morgen.

Die Touristen aus dem Reich der Mitte – 1,7 Millionen waren es im Vorjahr, heuer sollen es zwei Millionen werden – sind auch Ausdruck dafür, wie Taiwans Politiker die Schicksalsfrage ihres Landes eines Tages zu lösen hofft – nämlich die Frage der Wiedervereinigung. Wandel durch Annäherung und Annäherung durch Verflechtung, so lautet ihre Devise in Anlehnung an den einstigen Umgang Westdeutschlands mit der DDR.

Demokratie-Modell

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Die Regierung setzt darauf, dass immer mehr Festlandchinesen das wirtschaftlich sehr erfolgreiche Taiwan besuchen und ein anderes Bild von der Insel und auch Ideen von Demokratie und Freiheit mit nach Hause nehmen. An Taiwans Wesen soll das rote China genesen. Die Inselbewohner scherzen gerne, dass für die Touristen die Abendnachrichten das wichtigste Programm sind. Die Art, wie dort Taiwans Politiker durch Sonne und Mond kritisiert werden, ist in China undenkbar.

Wo immer über die Zukunft Taiwans gesprochen wird – der Schatten des chinesischen Drachen fällt stets in den Raum. Die Ausgangslage der 23 Millionen Taiwanesen ist delikat: Nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg 1949 zogen sich die Nationalchinesen unter Chiang Kai-shek nach Taiwan zurück. Sie nahmen nicht nur das Gold und die Kunstschätze mit, sondern auch die Überzeugung, die wahren Vertreter Chinas zu sein.

Mittlerweile ist Taiwan aber nur noch von 23 kleinen Staaten anerkannt, alle anderen wollen es sich mit den Mächtigen in Peking nicht verscherzen. Die Volksrepublik ist die aufstrebende Supermacht – wirtschaftlich, militärisch, geopolitisch. Das bedeutet eine gewaltige Herausforderung für das kleine Taiwan, das in der Lesart der KP nur eine chinesische Provinz ist und heimgeholt werden soll.

Das Liebäugeln mit der Unabhängigkeit unter Präsident Chen Shui-ban (2000– 2008) haben sich die Taiwanesen rasch wieder abgeschminkt. Der Nachfolger des mittlerweile wegen Korruption inhaftierten Chen, Ma Ying-jeou, setzt auf größtmögliche Entspannung mit Peking. 19 Verträge – darunter ein umfassendes Handelsabkommen – konnten abgeschlossen werden.

"Weiße Handschuhe"

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Auf direktem Weg war das natürlich nicht möglich, beide Seiten bedienten sich der sogenannten "weißen Handschuhe" – dabei handelt es sich um zwei offiziell unabhängige Stiftungen, die aber von den Regierungen zu Verhandlungen autorisiert sind. Ihr Erfolgsgeheimnis: Alle unlösbaren politischen Fragen werden erst gar nicht angesprochen.

84 Prozent der Taiwanesen hoffen, dass der Status quo so lange aufrecht bleibt, bis in Peking andere politische Zeiten angebrochen sind. Denn ihre noch relativ junge Demokratie wollen sie sich nicht mehr nehmen lassen. "In Taiwan wird am Tag gewählt, und am Abend kennt man das Ergebnis. In China weiß man das Ergebnis schon heute, und morgen wird erst gewählt. Das wollen wir nicht", sagt ein hoher Beamter.

Unter Taiwans Experten zirkulieren verschiedene Lösungsmodelle: "Ein China, zwei Regierungen", eine Konföderation, eine Union der chinesischen Republiken. Letztlich wissen aber alle, dass eine Zustimmung Pekings nur schwer zu erringen sein wird.

Auf die Frage, wie Taiwan in 30 Jahren dastehen werde, sagt der Politologe und hoch angesehene China-Experte Chong-Pin Lin: "Ich sage es nicht gerne, aber wir werden integriert sein in eine größere wirtschaftliche Macht." Taiwan müsse alles tun, um für sich das Beste herauszuholen. Und je sicherer sich China fühle, desto mehr Spielraum werde es Taiwan vermutlich lassen.

Der junge Taiwanese Yves nähert sich erst langsam dem Gedanken eines Miteinanders an. Er hat kürzlich erstmals China besucht, 17 Städte in 14 Tagen, er kann sich nicht mehr an alle Namen erinnern. "In China sagt einem jeder laut ins Gesicht, was er denkt", schildert er seinen ersten Eindruck. "Als ich heimkam, wusste ich: Wir sind die Japaner unter den Chinesen. Bei uns herrschen mehr Ordnung und Sitten."

In China habe er die Taiwanesen vermisst, sagt Yves. Wenn er jetzt chinesisches Fernsehen schaue, falle ihm aber auf: "Irgendwie gehen sie mir auch ab." Zumindest vor Taipehs Sehenswürdigkeiten kann der junge Mann die Festländler jederzeit treffen. Er muss nur auf die bunten Fähnchen achten.

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