Sündenbock Deutschland: "Da wird ein Schuldiger gesucht"

Thomas Gindele, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Handelskammer in Österreich
Handelskammer-Chef Thomas Gindele hat wenig Verständnis für Kritik an der deutschen Wirtschaftspolitik.

Industrieskandale und ein Außenhandel, der durch riesige (Export-)Überschüsse aus der Balance geraten ist: Deutschlands Wirtschaftspolitik ist heftiger Kritik ausgesetzt. Thomas Gindele, Geschäftsführer der Deutschen Handelskammer in Österreich (DHK), erläutert die deutsche Sicht der Dinge.

KURIER: Haben Deutschlands große Leitkonzerne eigentlich ein Problem mit Wettbewerb?

Thomas Gindele: Das glaube ich überhaupt nicht. Worauf wollen Sie denn hinaus?

Schummelsoftware und Kartellverdacht bei den Autobauern, Zinsmanipulation bei der Deutschen Bank. Etwas länger zurück der Korruptionsskandal bei Siemens: Sie alle haben sich unlautere Vorteile verschafft. Was läuft da strukturell schief?

Strukturell würde ich das nicht nennen. Gerade Siemens hat richtige Schlüsse gezogen und sorgt mit Transparenz dafür, dass Aufträge durch unlautere Zahlungen heute nicht mehr möglich sind. Ohne das beschönigen zu wollen: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Spielregeln in manchen Märkten mitunter anders sind und es nicht nur um sachliche Kriterien geht. Aber es war sicherlich ein Fehler, sich darauf einzulassen.

Für die USA gilt das nicht: Da gab es Umweltgesetze, die Autobauer schlicht umgangen haben.Wir haben eine sehr innovative Automobil- und Zulieferindustrie, die die Effizienz der Motoren über Jahre immer weiter optimiert hat. Dass man in Amerika an Grenzen der Machbarkeit gestoßen ist und auf unlautere Mittel zurückgegriffen hat, ist kein Ruhmesblatt für das Image deutscher Wertarbeit, das gebe ich zu. Aber es ist kein Anlass zu sagen, wir hätten unsere Innovationsfähigkeit außer Acht gelassen.

Findet eine Aufarbeitung überhaupt statt? Man hat den Eindruck, die Regierung ist sehr eng mit der Branche verbandelt.

Zumindest eine Nähe der Politik zur Autoindustrie muss es doch geben! Das ist ein zentraler Industriezweig, führend bei Innovationen, maßgeblich für unsere Erfolge in der Welt, mit hoher Beschäftigungswirksamkeit. Da täten wir sicher nicht gut daran, ab morgen Dieselautos in den Städten zu verbieten – diese Technologie ist auch für Österreich wirtschaftlich höchst bedeutsam.

Irgendwann wird in zehn, zwanzig Jahren Schluss sein; jetzt geht es darum, Stickoxide und CO2 weiter zu reduzieren. Aber man muss den Kunden fairerweise sagen, was leistbar ist und was nicht. Die Strafe für den VW-Konzern in den USA war richtig schmerzhaft, aber dort ist die Rechtslage nun einmal anders als in Europa.

Sie sind ja quasi im Exportsteigerungsbusiness tätig. Haben Sie Verständnis für die Kritik an Deutschlands hohen Leistungsbilanzüberschüssen?

Eigentlich nicht. Deutschland muss herhalten, wenn andere einen Schuldigen für ihre eigene Misere suchen. Ich finde es bedauerlich, dass wir uns rechtfertigen müssen. Gegenüber Österreich haben wir zum Beispiel gar keinen Überschuss.

Im Warenhandel schon, sogar mehr als zehn Milliarden Euro pro Jahr. Aber das wird durch den Tourismus ausgeglichen.

Genau, weil viele Deutsche hier Urlaub machen. Ein tolles Beispiel, wie Länder ausgewogen miteinander wirtschaften. Kritik verstehe ich dort, wo die Möglichkeit des Zurückzahlens überschritten wird. Man kann Schulden machen, um Konsum zu finanzieren, solange man diese bedienen kann. In Südeuropa wurde über die Verhältnisse gelebt und zu viel auf Pump finanziert. Wir zahlen das ein Stück weit mit, indem Deutschland Garantien über die Kapitalmärkte gibt, wenn die Länder in Schwierigkeiten geraten.

Die deutsche Volkswirtschaft als gigantische Bank, die Kredite vergibt und bangt, ob sie zurückgezahlt werden: Ist das ein schlaues Geschäftsmodell?

Würden Sie als Unternehmen einem Kunden ein Produkt verweigern, das dieser unbedingt haben will?

Nein. Aber ein sorgfältiger Kaufmann lässt auch nicht unbegrenzt anschreiben.

Die USA sind im Alleingang für ein Drittel des weltweiten Leistungsbilanzdefizits verantwortlich. Dort ist die Einstellung anders: Die Menschen sind stark konsumorientiert – basierend auf dem Versprechen, das in Zukunft zurückzuzahlen. Bei uns gibt die schwäbische Hausfrau prinzipiell nicht mehr aus, als sie einnimmt – eine Grundeinstellung, die ich auch in Österreich sehe.

Jetzt will Präsident Trump das US-Leistungsbilanzdefizit über eine Abschottung, Strafzölle und Amerika-zuerst-Politik abbauen. Ist das sinnvoll?

Das entspricht dem, was Sie anfangs kritisiert haben. Die USA wollen den Wettbewerb ein Stück weit außer Kraft setzen, damit US-Produkte den Vorzug erhalten. Warum tun sie das heute nicht? Weil die Kunden die amerikanischen Produkte eben nicht als die besten sehen – gerade die Automobilindustrie ist der beste Beweis.

In Deutschland sind 1100 Eisenbahnbrücken marode, von vielen Schulen bröckelt der Putz. Kann man so ein Hochtechnologieland betreiben?

Es ist nicht alles marode. Aber die öffentliche Infrastruktur hat tatsächlich erheblichen Sanierungsbedarf.

Warum investiert der Staat dann dann nicht? Das würde auch den Überschuss verringern.

Stimmt, es wäre ausreichend Geld zur Verfügung. Aber der Knackpunkt sind die Bewilligungsverfahren. Nach dem Protest gegen (das Bahnprojekt) Stuttgart 21 traut sich keiner mehr zu sagen: Das machen wir so. Glauben Sie, es könnte in Deutschland oder Österreich je wieder eine große Chemiefabrik gebaut werden? Unvorstellbar.

Thomas Gindele (52) ist seit 2005 Geschäftsführer der Deutschen Handelskammer in Österreich, welche die Aufgabe hat, die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder zu fördern.

Exportkaiser

Deutschland hat 2016 weltweit Waren um 1,2 Billionen Euro exportiert, aber nur um 920 Mrd. importiert. So ergibt sich ein Leistungsbilanz-Überschuss von zuletzt 8,3 Prozent der Wirtschaftsleistung (BIP) - weit über den von der EU-Kommission maximal tolerierten 6 Prozent des BIP.

Die internationale Kritik lautet, dass Deutschland zu wenig tut, um die Bilanz auszugleichen. Weil nicht alle Länder Überschüsse erzielen können, steht dem Plus auf deutscher Seite ein Minus auf Seite anderer Länder gegenüber.

Die Ersparnisse bzw. Forderungen der Deutschen entsprechen den Krediten (Schulden) anderer Länder. So hat Deutschland in Laufe der Jahre gegenüber dem Ausland ein Nettovermögen von fast 2 Billionen Euro angehäuft.

Kommentare