Sozialversicherung: Kampf um die Beitragshoheit

Bei Kontrollen funktioniert Zusammenarbeit sehr gut
Die Chefin der Wiener Gebietskrankenkasse lehnt Aufgabenverlagerung zur Finanz ab.

Geht es nach der türkis-blauen Regierung, dann soll bei den Sozialversicherungen kein Stein auf dem anderen blieben. Die bestehenden 22 Sozialversicherungsträger sollen auf maximal fünf reduziert werden. Zugleich soll die Einhebung der Abgaben und Beiträge von den Gebietskrankenkassen und anderen Sozialversicherungen (SV) zur Finanz verlagert werden.

"Die neue Finanzverwaltung übernimmt die Einhebung sämtlicher Lohnabgaben und erteilt Auskünfte an die Arbeitgeber", heißt es im Regierungsprogramm. "Die Beiträge werden anschließend an die jeweiligen Sozialversicherungsträger verteilt."

Verstaatlichung?

Für Ingrid Reischl, Chefin der "roten" Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK), ist diese Ankündigung eine Art gefährliche Drohung.

Sozialversicherung: Kampf um die Beitragshoheit
WGKK, Ulf Marnitz, Ingrid Reischl, Andreas Obermaier

"Wenn man die gesamte Beitragseinhebung und -prüfung zur Finanz verlagert, dann ist das nichts anderes als eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Wir sehen am negativen Beispiel Großbritannien, wohin das führt, wenn man nur noch vom Finanzminister einen gewissen Betrag zugewiesen bekommt", sagt Reischl zum KURIER. "Wir befürchten auch, dass die Zweckbindung der eingehobenen Gelder künftig wegfallen könnte. Daher wollen wir die Regierung überzeugen, dass die Verlagerung keinen Sinn macht." Sowohl "die roten als auch die schwarzen Krankenkassen" seien dieser Ansicht.

Politische Posten

Dazu muss man wissen, dass sich die Sozialversicherungen selbst verwalten und die Funktionäre von der Arbeiterkammer, den Gewerkschaften und der Wirtschaftskammer Österreich gestellt werden. Das birgt viel politischen Sprengstoff.

Außerdem muss man wissen, dass die Sozialversicherungen im Jahr 2016 rund 39,4 Milliarden an vorgeschriebenen Beiträgen und Abgaben eingehoben haben. Das ist eine Erfolgsquote von 99,7 Prozent. Nur in Wien ist sie marginal niedriger.

800 Kollektivverträge

Derzeit läuft das Prüfungssystem so: Sowohl die Finanz als auch die Gebietskrankenkasse führen sogenannte gemeinsame Prüfungen aller lohnabhängigen Abgaben (GPLA) durch. Dabei werden neben der korrekten Anmeldung und der Zahlung der SV- und Pensions-Beiträge auch die Lohnsteuer und die diversen Zuschläge überprüft. Sowohl die Sozialversicherungen als auch die Finanz prüfen die Einstufung der Versicherten bezüglich der rund 800 Kollektivverträge. Bei Letzterem schreiben sich die Sozialversicherungen selbst höhere Kompetenz zu.

2,28 Milliarden Euro

Allein die WGKK hat 90 Prüfer im Einsatz. "Unsere Prüfer haben strenge Zielvorgaben und sind auch effizienter", behauptet Reischl. Während die SV-Mitarbeiter in den vergangenen zehn Jahren bundesweit bei den GPLA rund 2,28 Milliarden Euro Beitragsnachträge einbringen konnten, kamen die Finanzer nur auf 1,52 Milliarden Euro. Im Vorjahr trieben die SV-Prüfer 197,2 Millionen Euro an Nachträgen ein, die Finanzer rund 141,4 Millionen Euro.

Wettbewerb gefragt

"Ich bin ein Anhänger des Wettbewerbs zwischen der Finanz und den Sozialversicherungen", sagt WGKK-Chefin Reischl. Alleine bei ihrer Krankenkasse würden durch die Aufgaben-Verlagerung zur Finanz etwa die Hälfte der 464 Jobs im Bereich Betragseinhebung und -prüfung wegfallen.

Baumafia und Sozialbetrüger

KriminalitätWien ist der Hotspot der Baumafia. Drei Viertel aller Scheinfirmen haben hier ihren Sitz. 2017 hat die WGKK 115 Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft wegen Sozialbetrugs erstattet und 11.000 fingierte Anmeldungen aufgedeckt. Die Arbeiter wurden bei den Scheinfirmen gemeldet, Beiträge wurden keine bezahlt. Seit Einführung der Auftrag- geberhaftung am Bau sinkt der Schaden. 270 Mio. Euro wurden 2017 zusätzlich eingenommen. Die WGKK musste nur noch 36,5 Millionen Euro „abschreiben“.

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