"Meer steht vor der Tür, alle an den Tisch"

APAKMA03 - 28052009 -WIEN - OESTERREICH: ZU APA-TEXT WI - Ein Mitarbeiter des GM-Powertrain-Werks in Wien-Aspern, aufgenommen am Donnerstag, 12. Maerz 2009, im Rahmen einer Werksfuehrung. APA-FOTO: HANS KLAUS TECHT
Die Niederlande sind selbst in der Krise ein Reformvorbild.

Später in den Job einsteigen, früher in Pension gehen und dabei immer älter werden – das bringt jedes Sozialsystem unter Druck. „Länder, in denen die Hälfte des Lebens nicht gearbeitet wird, sind in Schieflage“, sagte Aart De Geus, Vorstandschef der Bertelsmann-Stiftung, am Mittwoch in Wien. Der Niederländer war von 2002 bis 2007 Sozialminister seines Landes. Bei einer Veranstaltung des Instituts für Höhere Studien (IHS) und der Wirtschaftskammer erklärte er, warum die Niederlande als Vorbild gelten: 50 Prozent der über 60-Jährigen arbeiten noch. In Österreich sind es nur 21 Prozent. „Können wir uns das leisten? Ich glaube nicht“, so De Geus.

Doch auch in den Niederlanden sah es nicht immer rosig aus. 1995 betrug die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer nur 10 Prozent. Zwei Mal stand das Sozialsystem vor dem Kollaps – nach dem Ölschock und erneut nach dem Platzen der Internetblase. Beide Male waren schmerzhafte Reformen nötig. 1982 wurde mit Lohnstopp und kürzerer Arbeitszeit gegen hohe Arbeitskosten angekämpft. 2002 mussten die Ansprüche auf Invalidenzuschüsse stark gekürzt werden, nachdem bereits 13 Prozent der Arbeitnehmer diese bezogen hatten. Möglich wurden die Kurswechsel durch enge Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Gewerkschaften, sagt De Geus. Das wird „Poldermodell“ genannt, in Anspielung auf jenes Land, das die Holländer dem Meer mit Deichen und Pumpen mühsam abringen.

Dass Österreich im Jahr fünf der Krise bei Beschäftigung und Wachstum besser abschneidet als der EU-Schnitt, sei dem Sozialstaat zu verdanken, betonte Finanzstaatssekretär Andreas Schieder (SPÖ). Ein gutes Sozialsystem sei ein wichtiger Standortfaktor, dieses müsse künftig aber mit weniger Mitteln mehr leisten, sagte hingegen Markus Beyrer, seit 2012 Generaldirektor der EU-Arbeitgeberorganisation Businesseurope. „Vorbeugen statt heilen“ – statt für die Folgen von Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit teuer zu bezahlen, sollte der Staat mehr für die Prophylaxe aufwenden, wünscht sich IHS-Chef Christian Keuschnigg.

Falsche Steueranreize

Die Niederlande geben derzeit selbst Anlass zur Sorge: Das Land ist zum dritten Mal seit 2008 in die Rezession getaumelt, der Konsum stagniert. Schuld sind falsche staatliche Anreize: Niederländer durften Kredite bis zu 110 Prozent des Immobilienwertes aufnehmen und konnten die Zinsen steuerlich absetzen. Das ließ die private Verschuldung explodieren; diese Immobilienblase ist nun geplatzt. Zudem sei der Finanzsektor krank und dringend reformbedürftig, räumt De Geus ein.

Kommentare