Ökonom Atkinson: Alle Jugendlichen sollen erben

KURIER: Wir können uns heute nicht über
Ungleichheit unterhalten, ohne über das
Flüchtlingsthema zu sprechen. Einige Ökonomen sagen,
Europa profitiere von der Zuwanderung. Ist das nicht allzu optimistisch?
Sir
Anthony Atkinson: Wenn man in der Geschichte zurückschaut, gab es so massive Bevölkerungsbewegungen öfters. Im 19. Jahrhundert sind mehr als eine Million Schweden in die USA ausgewandert, dort leben inzwischen mehr Iren als in Irland. Und heute ist Europa auf Zuwanderung angewiesen.
Aber wie soll das funktionieren, so viele Menschen in Jobs zu bringen und zu integrieren?
Anfangs wird sicher der Druck auf die Sozialsysteme und Infrastruktur steigen. Da steht
Europas Sozialmodell auf dem Prüfstand. Andererseits haben wir es in den 1990ern geschafft, eine große Zahl Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien aufzunehmen. Es ist wirklich bemerkenswert, dass die Zivilgesellschaft rascher aktiv wurde als die Regierungen.
Großbritannien will jetzt gerade einmal 20.000 Flüchtlinge aufnehmen – über fünf Jahre. Warum ist die Regierung von Premier Cameron so restriktiv?
Die Regierung fährt einen Anti-EU-Kurs, verhält sich sozial destruktiv, darüber lässt sich wenig Gutes sagen. Auch die EU hat die Grenzstaaten Italien, Griechenland, Türkei, das kleine Malta lang im Stich gelassen. Und die humanitäre Hilfe ist deutlich unterdotiert. Wir machen große Versprechungen, halten sie aber nicht ein.
Ungleichheit schadet dem Wachstum, birgt politischen Sprengstoff. Für Sie zählt trotzdem die moralische Dimension mehr. Warum?
Es ist wichtig, dass Gesellschaften Ziele vor Augen haben. Über dem vielen Krisen- und Schuldengerede haben wir ganz die „Europa 2020“-Ziele vergessen. Eines davon lautet, die Armutgefährdung zu verringern. Diese Woche werden die Vereinten Nationen die globalen Ziele für Nachhaltige Entwicklung beschließen (am 25. bis 27. September in
New York, Anm.) Das ist bemerkenswert! Das Ziel der Armutsbekämpfung gilt nicht mehr nur für Entwicklungsländer, sondern global, auch für das Vereinigte Königreich und Österreich. Denn auch hier hat die Armutsgefährdung zugenommen.
Aber sind diese EU-Ziele nicht reine Lippenbekenntnisse?
Es mag schon sein, dass die EU ihre Ziele oft verfehlt. Dennoch ist es wichtig, Prinzipien zu haben. Schauen Sie sich nur um: In den letzten 15 oder 20 Jahren hat sich unser genereller Lebensstandard enorm verbessert.
Seit den 1980ern sind die Einkommen aber immer ungleicher verteilt. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, auf der Verliererseite zu stehen. Auch im Mittelstand gibt es viele Abstiegsängste. Warum?
Ein Grund ist, dass sich der Arbeitsmarkt gewandelt hat. Über 100 Jahre oder mehr hatten die Menschen Jobs, die sie von morgens bis abends arbeiten ließen. Das gab Stabilität. Heute haben’s junge Menschen schwer, in solche Position zu kommen. Mit Kurzzeit-Jobs und Praktika lässt sich aber keine Zukunft planen.
Der Mittelstand fühlt sich von zwei Seiten bedrängt: Er schneidet weniger bei den Einkommenszuwächsen mit, trägt aber die Hauptlast der Steuern.
Ja, das stimmt schon. Die Lohnquote fällt seit geraumer Zeit. Das ist eine bedeutende Wende: Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie 30 Jahre lang gestiegen. Zugleich hat sich die Steuerlast auf die Einkommen und den Konsum verschoben, während Kapital und Vermögen viel weniger stark besteuert werden.
Sie plädieren für Vermögenssteuern. Die Steuerlast in Österreich ist aber ohnehin hoch und ein enormer Standortnachteil.
Ein namhafter österreichischer Finanzminister – Joseph Schumpeter – hat gesagt: Wenn wir einen kapitalistischen Staat wollen, brauchen wir Steuern. Das war 1919, ist also keine neue Erkenntnis. Entscheidend ist nicht so sehr die absolute Höhe, sondern die Art und Weise der Besteuerung: Weg von der Arbeit, hin zu Kapital. Weg von den Jungen, hin zu den Älteren.
Heißt Generationen-Gerechtigkeit nicht auch, den Kindern keine Schulden zu hinterlassen?
Einverstanden, aber die Debatte läuft absurd. Wenn Sie eine Wohnung kaufen, haben Sie Schulden. Wie furchtbar! So wie die Staaten, alle haben Schulden, die sie abbauen sollen. Was tun Sie nun: Verkaufen Sie die Wohnung? Jeder schaut nur auf die Schulden, aber nicht auf die Vermögenswerte. Wir geben aber beides an künftige Generationen weiter.
Es sind aber nicht alle Staatsausgaben vernünftig, oder?
Wir sind in der verrückten Situation, Kredite fast zum Nulltarif aufnehmen zu können. Aber die Regierungen nutzen das nicht, um Schulen oder Spitäler zu bauen. Dabei würde es nur einen minimalen Ertrag brauchen, um die Kreditkosten einzuspielen. Ich bin auch der Meinung, der Staat sollte sich an Unternehmen beteiligen.
Österreich hat mit der verstaatlichten Industrie äußerst schlechte Erfahrungen gemacht.
Ich sage nicht, dass Regierungen die Unternehmen steuern sollen, sondern besitzen. Viele Innovationen wurden übrigens ursprünglich von Staaten finanziert – ohne diese Forschung würde es Apples iPhones nicht geben.
Warum sind die Einkommen und Vermögen seit 1980 immer ungleicher verteilt?
Die OECD sagt recht unmissverständlich, ein großer Teil liege daran, dass der Wohlfahrtsstaat demontiert wurde. Also wäre ein Teil der Lösung, diesen wieder aufzubauen – aber für das 21. Jahrhundert.
Sie wollen zum Beispiel, dass der Staat Arbeitslosen eine Beschäftigungsgarantie zum Mindestlohn gibt. Was sollen diese Menschen denn arbeiten?
Ich denke da nicht nur an den öffentlichen Bereich, auch private Unternehmen sollen animiert werden, Leute einzustellen. Früher hatten Arbeitgeber ein Verantwortungsgefühl, das ist verloren gegangen. Diese Idee ist übrigens nicht neu, mehrere Staaten hatten so etwas schon. Und die EU hat eine Jugendgarantie beschlossen.
Österreich schreibt sich auf die Fahnen, dafür das Vorbild geliefert zu haben. Aber wie produktiv können solche staatlich garantierten Jobs sein?

Sie schlagen vor, jeder sollte mit 18 Jahren eine Erbschaft erhalten. Wie viel Geld soll das sein und woher soll es kommen?
Sie haben keine Erbschaftssteuer hier in Österreich, richtig? Das verstehe ich nicht, das ist ein so offensichtlicher Ursprung von Chancen-Ungleichheit. Ich würde die Steuer verwenden, um jedem ein Erbe zu ermöglichen. Das wäre nicht viel Geld, aber vielleicht genug, um das Studium oder eine Anzahlung für die Wohnung zu finanzieren
In Österreich ist der Spitzensteuersatz für Einkommen jetzt 55 Prozent. Noch zu wenig?
Sätze von 85 oder 90 Prozent würde ich auch unfair finden, aber 65 Prozent erschiene mir vernünftig.
Ungleichheit ist kein Ansporn für mehr Leistung?
Ich kenne keinen einzigen Beweis dafür. Ein britischer Spitzenmanager hat gesagt: "Wenn sie mir doppelt so viel zahlen, würde ich um nichts härter arbeiten. Wenn sie mir halb so viel zahlen, um nichts weniger." Wird jemand wie Bill Gates durch Geld angetrieben, oder weil ihm seine Tätigkeit Spaß macht?
Was hat diese Ambitionen dann im ehemals realen Sozialismus zerstört?
Schwierig zu sagen, da kann es so viele Gründe geben, warum Bill Gates in kommunistischen Staaten gescheitert wäre - angefangen von Problemen, Unternehmen zu gründen oder Material und Rohstoffe zu kriegen.
Stichwort Industrie 4.0: Wird die Digitalisierung wie befürchtet Arbeitsplätze zerstören?
Innovation kann in unterschiedliche Richtungen zielen. Wir investieren viel Geld in selbstfahrende Autos – unter anderem, weil das US-Militär daran ein Interesse für Kampfeinsätze hat. Wir vergessen gern, dass das eine bewusste Entscheidung ist, die anders ausfallen könnte.
Können wir denn Innovation danach definieren, ob Menschen die Jobs behalten? Dann hätten Kutscher das Auto verhindert.
Die fundamentale Frage lautet: Was meinen wir mit Produktivität? Die Robotisierung hat das Wesen vieler Produkte verändert, wir haben entmenschlichte Dienstleistungen in allen Bereichen. Wir verlieren dadurch viel, was wir mit unseren Kennzahlen nicht erfassen.
Was zum Beispiel?
Man könnte sicher Medikamenten-Automaten aufstellen, das wäre billiger als eine Apotheke. Aber der Automat würde die Kundin nicht fragen: "Sind Sie schwanger?" Ein wichtiger Teil der Interaktion wäre verloren.
Immerhin sind dank höherer Produktivität Smartphones für fast jeden leistbar geworden.
Ich bin überhaupt nicht gegen Technologie, mein erster Job war bei IBM. Die Frage ist, wofür sie verwendet wird. Das entscheiden derzeit Konzerne oder staatliche Stellen, nicht der Konsument.
Am Ende entscheiden aber doch die Konsumenten, ob sie vor einem Apple-Store Schlange stehen oder nicht.
Nein, die Konsumenten haben in Sachen Technologie wenig mitzureden. Und auch Apple hat einige veritable Flops gelandet.
Die 15 Vorschläge aus Atkinsons Buch "Inequality - what can be done?" finden Sie hier (auf Englisch).
Verteilungsökonom
Popstar-Ökonom Thomas Piketty nennt ihn als Vorbild: Sir Anthony Atkinson (71) gilt als Doyen der Ungleichheitsforschung. Der britische Professor (Oxford, London School of Economics), hat u. a. das „Atkinson-Maß“ zur Berechnung von sozialer Ungleichheit entwickelt.
Neues WU-Forschungsinstitut
In Wien stellte Atkinson sein jüngstes Buch vor („Inequality. What Can Be Done?“) Am 18. September eröffnete er an der Wirtschaftsuniversität Wien das neu gegründete interdisziplinäre Forschungsinstitut „Economics of Inequality“, das von Professor Wilfried Altzinger geleitet wird.
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