Notenbanker-Gipfel: Warnung vor der "Kernschmelze"
"Ich habe mich gefühlt wie einer der frühen Christen, der den halb verhungerten Löwen vorgeworfen wird", erinnerte sich Raghuram Rajan etliche Jahre später. Und zwar an jenen Moment, in dem er Geschichte schreiben hätte können. Jenen Moment, in dem die Finanzkatastrophe abgewendet werden hätte können, die im September 2008 rund um den Globus rollte und die Weltwirtschaft noch immer im Würgegriff hält. Doch leider kam es dazu nicht. Was war passiert?
Samstag, 27. August 2005. Der regionale Ableger der US-Notenbank, die Kansas City Fed, hat zum Wirtschaftssymposium nach Jackson Hole (Wyoming) geladen. Jedes Jahr versammelt sich in dem winzigen Bergdorf ein elitärer Kreis von Notenbankern, Spitzenökonomen und handverlesenen Medienvertretern aus aller Welt (Teilnehmer 2016).
In einer schlichten Lodge am See, vor einem majestätischen Bergpanorama, sollen sie über Themen diskutieren, die die Finanzwelt gerade bewegen. Möglichst ungezwungen, ohne große Etikette.
2005 steht freilich ganz im Zeichen einer Person. Das Thema ist "Die Ära Greenspan: Lehren für die Zukunft". Zelebriert wird der Abschied von Alan Greenspan, genannt "Maestro" oder "Magier".
Das Orakel findet kein Gehör
Bis an diesem Samstag ein indischstämmiger Ökonom das Wort ergreift. Raghuram Rajan wurde eingeladen, um über innovative Finanzprodukte zu sprechen. Seit zwei Jahren leitet er die Forschungsabteilung im Internationalen Währungsfonds. Der 42-jährige ist wenig bekannt, gilt aber als brillanter Kopf.
Gefahr der Kernschmelze
Und während in den 1960ern Banker ein fixes Gehalt bezogen, werden sie jetzt durch Erfolgszahlungen verleitet, immer mehr Risiko einzugehen. Rajan spricht sogar punktgenau die "weltweit stark erhöhten Immobilienpreise" an.
Sein Fazit: Diese Entwicklungen führten zu einer "größeren (wenn auch immer noch kleinen) Wahrscheinlichkeit einer katastrophalen Kernschmelze".
Genau die kam im September 2008. Rajan hatte recht behalten, mit jedem Punkt. Ohne es zu wissen, hatte er den Finger in die klaffende Wunde der Finanzwelt gelegt. Noch wäre Zeit gewesen, diese zu schließen.
Geschichte wiederholt sich
Doch die mächtigsten und klügsten Köpfe der Zunft waren nicht zu Kritik aufgelegt, sondern in Feierlaune. Wegen Greenspan. Wegen der guten Wachstumszahlen. Wegen der boomenden Börsen. Als Erster ergriff Lawrence "Larry" Summers das Wort. Der streitbare Ex-Finanzminister kanzelte den Partyschreck rüde ab. Die Analyse sei "fehlgeleitet" und ein "reichlich maschinenstürmerischer Ansatz". Er warf Rajan vor, er sei ein Nostalgiker, der sich die alte Welt starrer Regeln zurücksehne. So ging’s weiter. Von Löwen zerfleischt.
Die Ironie will es, dass Summers später die Trümmer einsammeln durfte: 2009, am Höhepunkt der Finanzkrise, machte ihn US-Präsident Obama zum Wirtschaftsberater.
Zu viel eingemischt
Und Raghuram Rajan? Auch er machte Karriere, wurde 2013 Chef der indischen Notenbank. Allerdings nicht lange: Vor einer Woche kam überraschend die Meldung, dass Rajan zurücktritt. Er habe sich Premier Narendra Modi zufolge zu sehr in die Politik eingemischt.
Das Symposium von Jackson Hole gibt es immer noch (Programm von 2016). Es findet unverändert in jenem Bergdorf statt, das 1982 ausgewählt wurde, weil der damalige Fed-Chef Paul Volcker so gern Fliegenfischen ging.
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