Lendvai über Ungarn: Hilfe oder Bankrott

Lendvai über Ungarn: Hilfe oder Bankrott
Die EU sollte Ungarn rechtzeitig helfen, um einen Bankrott zu verhindern, fordert der Ungarn-Kenner Paul Lendvai im KURIER-Interview.

Ungarns Premier Viktor Orbán sucht derzeit intensiven Kontakt mit den EU-Partnern, um den Finanzkollaps seines Landes abzuwenden. Nach dem Auftritt im Europäischen Parlament trifft er am Dienstag die gesamte EU-Spitze in Brüssel. „Es geht um die Rettung des Landes“, sagt der bekannte Publizist und gebürtige Ungar, Paul Lendvai.

KURIER: Herr Professor, was will Orbán mit den EU-Kontakten bezwecken?
Paul Lendvai: Orbán hat zuletzt bewiesen, dass er ein starker Politiker und Verwandlungskünstler ist. Wenn man seine starken Sager in den vergangenen zwei Monaten gegenüber dem Internationalen Währungsfonds, der EU und der EZB mit den jetzigen Worten vergleicht, befindet er sich auf einem taktischen Rückzug, um das Schlimmste zu verhindern. Die EU ist heute viel weniger bereit, Orbán zu glauben. Das Vertrauen in seine Regierung ist in Brüssel und in Washington gestört. Ungarn braucht dringend Finanzhilfe wie im Jahr 2008. Ohne Kredite kann das Land nicht überleben.

Wie schlimm steht es um Ungarn wirklich?
Selbst konservative Ökonomen warnen, dass der wirtschaftliche Freiheitskampf zum Tode verurteilt ist. Der angesehene Ex-Chef des Statistikamtes, Tamás Mellar, warnt vor einer Politik, die Sondersteuern einführte und private Pensionskassen verstaatlichte. Das hat weder die Staatsschulden gesenkt, noch Wachstum gefördert. ,Die Kosten des verlorenen Freiheitskampfes schlagen sich heuer zu Buche: Weniger Lohn, höhere Preise und Budgetkürzungen. Ohne Kredite kann man die Staatspleite nicht vermeiden‘, so Mellar.

Das heißt, Orbán spricht mit gespaltener Zunge?
Die Aussage Orbáns, wir geben nur der Macht nach, nicht den Argumenten, ist sehr gefährlich. Ungarn braucht eine Wende in der Wirtschaftspolitik, es braucht die besten Köpfe. Das könnte auch eine Technokraten-Regierung sein. Die große Gefahr ist, dass der Orbán-Kurs zur Absicherung der Macht fortgesetzt wird, die wirtschaftlichen Probleme werden größer, den Preis zahlt die Bevölkerung.

Eine Massendemonstration hat Orbán zuletzt den Rücken gestärkt, gleichzeitig verliert er an Zustimmung. Wie ist das zu verstehen?
Die Demonstration wurde von Fidesz-Stellen und von extrem rechten, antisemitischen Persönlichkeiten mitorganisiert. Orbán soll dadurch im Inneren gestärkt werden. Die Rückendeckung könnte aber auch ein Pyrrhussieg sein. Wir wollen keine EU-Kolonie werden, skandierten die Demonstranten. Es geht aber nicht um Kolonisierung, sondern um die Rettung Ungarns.

Hat Orbán noch die Mehrheit der Wähler hinter sich?
Er hat die Hälfte der Wähler verloren, dennoch könnte er heute eine Wahl gewinnen. Er ist noch die stärkste Persönlichkeit der Fidesz, die Sozialisten sind schwach und diskreditiert. Die Opposition hat das Vertrauen nicht gewonnen. 40 Prozent der Wähler würden nicht wählen, die Politikverdrossenheit ist groß.

Außenminister Michael Spindelegger lehnt ein Orbán-Bashing ab. Wie sehen Sie Österreichs Ungarn-Politik?
Sehr zurückhaltend, was die Verteidigung elementarer Interessen von Banken und Investoren angeht. Österreich hat zu spät auf Sondersteuern, die Benachteiligung von Handelsketten und die vorzeitige Tilgung von Fremdwährungskrediten auf Kosten der Banken reagiert. Die Regierung muss österreichische Interessen ohne Rücksicht auf Parteipolitik verfolgen.

BUCHTIPP: Lendvai, Paul: Mein verspieltes Land: Ungarn im Umbruch, Ecowin-Verlag, Wien 2010, 23,60 Euro. 2011 erschien ungarische Fassung. Eine aktualisierte slowakische und englische Version (Columbia University Press) erscheint in Kürze.

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