"Die Jugend ist sich selbst überlassen"

"Die Jugend ist sich selbst überlassen"
Interview: Jugendliche ohne Perspektiven gibt es auch in Österreich, sagt Soziologe Johann Bacher. Das hat Folgen.

Wutentbrannt zogen Jugendliche kürzlich eine Spur der Verwüstung durch Großbritanniens Straßen - viele davon ohne Chancen auf Bildung und Job. Aber es gibt sie auch in Österreich, die jungen Leute ohne Perspektive: Im Durchschnitt waren in Österreich in den Jahren 2007 bis 2009 laut Mikrozensus sechs Prozent der 16- bis 19-jährigen Österreicher weder in Ausbildung, Beschäftigung noch in Weiterbildung. Somit befanden sich rund 24.000 Jugendliche (6000 pro Jahrgang) außerhalb des Systems. "Eine erfolgreiche Teilhabe an Bildung und Beschäftigung ist eine zentrale Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben", schreibt der Soziologe Johann Bacher schon in seinem Exzerpt. Im Gespräch mit dem KURIER sprach er über Bildungsarmut in Österreich und die Ausschreitungen in England.

KURIER: Laut Berichten waren in London hauptsächlich Menschen aus einer niederen sozialen Schicht an den Randalen beteiligt. Was ist der Grund dafür?
Johann Bacher: Personen aus niederen sozialen Schichten haben weniger Möglichkeiten, gesellschaftlich relevante Ziele zu erreichen.

Welche Ziele meinen Sie hier konkret?
Etwa ein ausreichendes Einkommen für eine Teilhabe an der Gesellschaft, eine ansprechende Erwerbstätigkeit oder soziales Ansehen. Diese geringeren Möglichkeiten erzeugen einen "anomischen" Druck, sich "abweichend", auch "gewalttätig" zu verhalten. Wobei es in dieser Situation ganz unterschiedliche Reaktionsmuster gibt, neben der Rebellion wie in England auch zum Beispiel sozialer Rückzug.

Rebellion als Folge von Bildungsarmut?
Ja, viele Jugendliche sind bildungsarm. Das bedeutet, dass grundlegende Fähigkeiten und Kenntnisse für eine erfolgreiche Teilhabe an der Gesellschaft fehlen. Es fehlen etwa die grundlegende Rechenarten oder Schreibfähigkeiten. Hinzu kommen oftmals Informationsdefizite.

Wie sieht die Situation in Österreich aus?
Pro Jahrgang sind 5000 bis 6000 der 16- bis 19-jährigen Jugendlichen in Österreich nicht im System integriert. Sie sind weder beschäftigt noch in einer Ausbildungs- oder einer Trainigsmaßnahme. Im internationalen Vergleich sind das zwar gute Werte, trotzdem besteht massiver Handlungsbedarf. In Österreich wird oftmals zu wenig präventiv gemacht.

Wie sozial zuträglich ist die berufsbildende Ausbildung?
Wenn es nur ein Gymnasium geben würde, wäre die soziale Selektivität noch größer. Die berufsbildende Ausbildung und die Fachhochschulen vermindern die soziale Ungleichheit. Aber es gibt in Österreich zu wenige Plätze an den Fachhochschulen. Was in Österreich gut ankommt, sind die Selbsterhalterstipendien. Sie ermöglichen einen zweiten Bildungsweg.

In der Diskussion um Studiengebühren wird vonseiten der Gegner argumentiert, dass diese Studieninteressenten aus niederen sozialen Schichten benachteiligen.
Soziale Ungleichheit findet viel früher statt - bereits beim Besuch einer maturaführenden Schule und beim Erwerb der Matura. Und selbst wenn jemand aus einer niederen sozialen Schicht die Matura hat, studiert er wahrscheinlich trotzdem nicht. Das Einkommen ist dann der zweiter Filter, ob jemand ein Studium beginnt.

Sie sind also gegen Studiengebühren, weil sie soziale Ungleichheit fördern?
Ja, aufgrund von Befunden aus Deutschland bin ich gegen Studiengebühren. Ich denke, dass zwar eine Form der Zugangsbeschränkung erforderlich ist. Jedoch nicht über Studiengebühren, weil sie sind ungerecht. Die Hälfte der europäischen Länder erhebt keine Studiengebühren.

Wie lässt sich der Kreislauf durchbrechen?
Langfristig durch ein späteres Erstselektionsalter - mit zehn Jahren ist das zu früh. Außerdem mit der Ganztagsschule: Heutzutage sind die Eltern meist erwerbstätig. Zwischen elf und 14 Jahren sind die Jugendlichen derzeit oftmals in einer Betreuungslücke. Die Kinder sind zu Hause und nützen die freie Zeit natürlich nicht für Schulaktivitäten. Es gibt hier interessante geschlechtsspezifische Unterschiede: Mit zwölf, 13 sinkt die Leistung von Buben wegen der Pubertät stärker als die von Mädchen. In Ganztagsschulen gelingt es, den Leistungsrückgang geringer zu halten.

Ist die Vorstellung einer gerechten Welt - "Man kann alles erreichen, solange man hart dafür arbeitet" - obsolet?
Langfristig ja, da immer mehr ersichtlich wird, dass eine erfolgreiche Teilhabe an der Gesellschaft mit einem durchschnittlichen Erwerbseinkommen nicht mehr möglich ist. In Österreich haben wir nach wie vor ein hohes Systemvertrauen. Das Vertrauen in die Institutionen ist hoch, doch auf der anderen Seite ist das Vertrauen in die Politik gering. Die Menschen haben hohe Erwartungen an die Politiker und in den Wohlfahrtsstaat. Wenn die Frage der Verteilungsgerechtigkeit nicht gelingt, wird das Vertrauen ins System sinken.

Sie schreiben in Ihrem Bericht von der volkswirtschaftlichen Bedeutung von Bildung.
Die Folgen von Bildungsarmut sind auf der personellen Ebene ein geringes Einkommen, ein hohes Arbeits- und Armutsrisiko, ein höheres Krankheitsrisiko und geringer Selbstwert. Ist das Bildungsniveau sehr gering, sinkt auch die Produktivität der Volkswirtschaft. Das wirkt sich auf das Wirtschaftswachstum aus. Außerdem haben diese Leute ein geringes Einkommen, wodurch die Kaufkraft gering ist. Auch das beeinflusst das Wirtschaftswachstum.

Zur Person: Johann Bacher

Bildung Der gebürtige Oberösterreicher Johann Bacher studierte Sozial- und Wirtschaftsstatistik an der Uni Linz. Er lehrte an verschiedenen Universitäten im deutschsprachigen Raum. Seit 2004 ist Bacher Universitätsprofessor für Soziologie und empirische Sozialforschung an der JKU in Linz, seit 2006 Leiter der Abteilung Kriminologie des Zentrums für Rechtspsychologie und Kriminologie.

Schwerpunkte Johann Bacher beschäftigt sich mit sozialer Ungleichheitsforschung, etwa der Einkommensarmut, insbesondere von Kindern und Bildungsungleichheiten in Österreich und der Erwerbslosigkeit und den Auswirkungen. Außerdem liegt sein Fokus auf der Soziologie des Abweichenden Verhaltens, auf der Soziologie von Familie, Jugend und Kindheit und der Vorurteilsforschung.

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