Keine Ausbildung, keine Zukunft

Keine Ausbildung, keine Zukunft
Am Rand: Die Zahl der Jugendlichen ohne Berufsausbildung ist in zehn Jahren stark gestiegen. Das Phänomen trifft junge Männer viel stärker als Frauen. Warum?

Die Schlange der jungen Menschen, die beim AMS für Jugendliche im 6. Bezirk in Wien anstehen, reicht bis auf den Gehsteig hinaus. Die Burschen tragen Jogginghosen, Lederjacken und die Kappen verkehrt herum, die Mädchen enge Hosen und knappe Oberteile. Ihre Dokumente – Lebenslauf, Zeugnisse, Anträge – haben sie lose zusammengerollt in der Hand. Sie stehen in kleinen Gruppen, reden laut, der Schmäh rennt – die Zeit nicht. Denn auch an diesem Montagmorgen wollen viele Jugendliche einen Job, eine Ausbildung, einen Deutschkurs. Sie warten darauf, endlich dran zu kommen. Sich ihrem beruflichen Einstieg, ihrer Unabhängigkeit, einen Schritt zu nähern.

Es sind mehr Burschen hier als Mädchen. Razul etwa. Der 23-Jährige kam vor vier Jahren aus Afghanistan nach Österreich. Er sagt, er sei Maler und Tennis-Lehrer. In diesen Bereichen will er wieder arbeiten. "Aber zuerst brauche ich einen Deutschkurs", sagt Razul. Er habe bereits A2, damit sei es am österreichischen Arbeitsmarkt aber noch schwierig. Jetzt will er B1 machen. Wir treffen auch Ali. Er ist 16, spricht gebrochen Deutsch. Der Russe ist seit zwölf Jahren in Wien, möchte Maler oder Tischler werden. Die Schule hat er mit 15 verlassen. Er ist zuversichtlich, bald eine Ausbildungsstelle zu bekommen.

Dass es bei Jugendlichen, vor allem bei jungen Männern mit Migrationshintergrund, einen Handlungsbedarf gibt, hat auch die Politik erkannt. Erst diese Woche stellte Sozial- und Arbeitsminister Alois Stöger seine neue Kampagne zur Ausbildungspflicht bis 18 vor (siehe weiter unten), die erstmals für Schulabgänger dieses Jahrgangs gilt. Für den Sozialminister ist die neu in Kraft getretene Regelung ein Meilenstein. Weil sie die Jugendlichen und ihre Eltern in die Pflicht nimmt.

Im Visier hat Alois Stöger 5000 Jugendliche "die komplett aus dem System fallen". Laut Institut für Höhere Studien brechen jedes Jahr etwa 5000 junge Menschen zwischen 14 und 17 Jahren ihre Ausbildung ab. Sie schaffen es nicht, sich für einen Schul- oder Karriereverlauf zu qualifizieren. "Sie stehen ohne Ausbildungsbetrieb da, machen oft Hilfsarbeiterjobs, wo sie kurzfristig zwar Geld, aber keine Perspektiven haben. Das ist der Beginn einer Arbeitslosen-Karriere", sagt Stöger.

Die anderen Institute jonglieren mit anderen Zahlengrößen. Die Statistik Austria meldet, dass im Jahresdurchschnitt 2016 in Österreich 75.700 15- bis 24-Jährige (7,7 Prozent) weder erwerbstätig noch in Aus- oder Weiterbildung waren. In der Bundeshauptstadt umfasst diese Gruppe der sogenannten NEET (not in education, employment or training) 25.000 Personen – 11,6 Prozent aller jungen Menschen in Wien. Für Doris Landauer vom AMS Wien ist das allerdings "massiv unterschätzt." Weil es sich nur um eine Befragung und Hochrechnung handelt, müsse man den Wert stark erhöhen, um ein realistisches Bild zu bekommen. Beim AMS Wien wiederum sind aktuell 26.387 Menschen unter 25 Jahren gemeldet – 16.499 Männer und 9.888 Frauen. Zwei Drittel haben Migrationshintergrund.

Männersache

Auffällig ist, dass die Perspektivenlosigkeit stärker junge Männer trifft als Frauen. Der Arbeitsmarkt verändert sich, gerade in Wien fallen Industriejobs nach und nach weg. Ungelernte und Hilfsarbeiter sind kaum mehr gefragt. Auf der anderen Seite gibt es ein großes Angebot an jungen Menschen. Wer unterkommen will, braucht heute aber Hirnschmalz, nicht Muskeln. Muss gut ausgebildet sein, sich in ein Unternehmen eingliedern können. Männliche Jugendliche tun sich hier offenkundig besonders schwer – ihre Alternative ist dann die Clique im Park, bei den Gürtelbögen, im Einkaufszentrum.

Keine Ausbildung, keine Zukunft
Rest-infografik FOTO: Gilbert Novy, 46-101796799 v. 22.08.2017

Die Gründe, warum es diese jungen Menschen nicht in den Arbeitsmarkt schaffen, sind vielfältig. Minister Stöger nennt etwa die fehlende Unterstützung von zu Hause; ein Umfeld, in dem man auf Bildung keinen Wert legt; den Jugendlichen würde zu oft gesagt, was sie alles nicht können. Martina Schneider, Jugendcoach bei der Wiener Volkshochschule, sieht die Schnittstelle zwischen Pflichtschule und Beruf als besonders kritisch. "In der Schule sind die Jugendlichen behütet, Fehler werden eher toleriert. Dann sollen sie plötzlich in einem Arbeitsumfeld bestehen, wo es das alles nicht mehr gibt. Oder sie kommen gar nicht in eine Lehre, weil es an grundlegenden Kenntnissen fehlt. An den Basisqualifikationen oder den Basistugenden", sagt die Expertin.

Caritas-Geschäftsführer Klaus Schwertner sieht vor allem die sozialen Fähigkeiten der Jugendlichen unterentwickelt: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Selbstständigkeit und Konzentrationsfähigkeit. Besonders bitter sei, dass die Unterstützung von zu Hause fehle. Doris Landauer vom AMS Wien: "Im Elternhaus liegt eine Schuld, aber nicht die Lösung. Weil der Appell nach Ausbildung dort nicht ankommt. Das trifft einheimische Familien genauso wie Migranten. Es ist ein soziales Problem."

Abwärtsspirale

Was Schwertner noch auffällt: "In unserem Wohnhaus für wohnungslose Jugendliche war das Durchschnittsalter vor zehn Jahren 27 Jahre. Heute ist es 21." Junge Männer ohne Job und Ausbildung betreut auch oft der Verein Juvivo. Die Pädagogen arbeiten in sechs Wiener Bezirken sehr niederschwellig mit Jugendlichen, "die weniger Möglichkeiten haben", erklärt Geschäftsführer Walter Starek. Sie treffen sie dort, wo sie ihren Tag verbringen, gehen aktiv auf die Jugendlichen zu. "Im öffentlichen Raum halten sich mehr Burschen auf, man nimmt sie deshalb auch viel stärker wahr. Wir erreichen sie aber auch schneller als die Mädchen", sagt Gabriele Wild, Pädagogische Leiterin bei Juvivo. Sie erzählt von Jugendlichen, die aufgegeben haben: "Sie schicken zwanzig Bewerbungen aus, werden ignoriert, zweifeln und verdrängen das Ganze schließlich." Der Beginn einer Abwärts-Spirale, die auch durch die Gesellschaft befeuert würde. "Jugendlichen ohne formalem Abschluss, mit ausländisch klingendem Namen oder die nicht sattelfest bei der Sprache sind, wird mit großer Skepsis begegnet. Man traut ihnen generell weniger zu", so Wild.

Um dem zu entgehen, steigen die Jugendlichen lieber bei Freunden und Familie in Gelegenheitsjobs ein, nehmen Hilfstätigkeiten an, arbeiten schwarz, werden zu Überlebenskünstlern. An langfristige Entwicklung denken? An die Zukunft? "Das ist die Ausnahme", sagt Wild. Man schaue auf den unmittelbaren finanziellen Nutzen. "Sie fragen sich, ob sie den Lebensunterhalt heute eher mit einer Lehrlingsentschädigung oder mit einem Hilfsarbeitergehalt bewältigen können", sagt Juvivo-Geschäftsführer Starek.

Sie wollen, aber können nicht

Aus ihrer Erfahrung schöpft Jugendcoach Martina Schneider einen positiven Blick auf die Jugendlichen. "Wenn man mit ihnen spricht, erkennt man, dass 99,9 Prozent eine Ausbildung machen wollen, sie scheitern aber am System – weil sie nicht gut genug sind, weil sie diskriminiert werden oder ihre Familie nicht einmal weiß, was eine Lehre ist." Der Bildungsstatus – eben oft ein sehr niedriger – wird vererbt, vielen Jungen fehlt komplett die realistische Perspektive. "In ihren Vorstellungen wollen sie Superstar oder Fußballer werden. Aber kaum jemand schafft es aus dem Fußballkäfig im Park auch ins Stadion. Wir wollen sie auf einem Weg begleiten, der realistisch ist, ohne dabei aber ihre Vision zu zerstören", sagt Pädagogin Gabriele Wild.

Doris Landauer bestätigt: "Es gibt Jugendliche, die sagen, sie haben komplett die Schnauze voll, sind fertig mit allem. Aber in dem Moment, wo man an sie herankommt, sie erreicht, erkennt man, dass sie Träume haben." Diese Jugendlichen hätten "noch keinen Fuß auf der Erde und auch nichts und niemanden, worauf sie zurückgreifen können." Für pubertierende Jugendliche eine oft ausweglos erscheinende Situation.

Mit direkter Ansprache wollen Jugendcoaches, das AMS, die Caritas oder Juvivo an die verlorenen Jugendlichen herankommen, ihnen Perspektiven zeigen, ihnen Möglichkeiten eines Einstiegs in ein geregeltes Leben eröffnen. Minister Stöger: "Es mag einige wenige Jugendliche geben, die echt nicht wollen. Aber um die geht es nicht. Es geht um die Mehrzahl, die arbeiten oder in die Schule gehen will und eine Chance braucht. Es ist unsere Pflicht, diese Jugendlichen zu erreichen."

KURIER: Wir schreiben eine Geschichte über Jugendliche, die nicht in Job oder Ausbildung sind. Und fragen uns, woran das liegt.
Daniel:
An der Motivation. Bei mir zumindest. Nach sehr sehr vielen Bewerbungen und Absagen hat es mir definitiv an der Motivation gefehlt.

Wo haben Sie sich beworben?
Daniel:
Ich habe mich sehr oft als Maler beworben. Ich habe eine Maler-Lehre begonnen, kurz bevor ich sie beendet hätte, hat mein Lehrbetrieb zugesperrt. Ich habe keinen neuen Job gefunden. Die Betriebe wollten nur neue Lehrlinge oder Ausgelernte.
Dominik: Ich habe genauso keine Lust mehr dazu, Arbeit zu suchen, nach dem, was die Arbeitgeber abziehen. Man muss den Arschlöchern in den Arsch kriechen, um etwas zu bekommen. Wenn man einmal ehrlich ist, kriegt man gleich eine Verwarnung.

Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht?
Dominik: Ja, beim Bewerben und auch in Unternehmen. Nachdem ich die Bäcker-Lehre abgebrochen habe, wollte ich zum Hofer oder EDV-Techniker werden. Auf meine Bewerbungen ist nichts zurückgekommen oder ein Nein.
Daniel: Das kenn ich. Ich hab 200 Bewerbungen geschrieben, 20 Antworten gekriegt.

Sie waren beide im Lehrlingsheim in Eggenburg. Wie sieht es mit dem familiären Rückhalt aus?
Daniel:
Ich hatte jahrelang ziemlich viel Streit mit meiner Mutter. Wir haben irgendwann beide gemeint, so geht es nicht mehr. Ich wollte raus, sie wollte, dass ich gehe. Ich war zweieinhalb Jahre in der Anstalt, dann hat sie zugesperrt. Ich hab danach als Regal-Einschlichter gearbeitet. Das war dann auch nix. Seit dem bin ich wieder auf der Suche.

Und Ihr Lehrabschluss?
Daniel: Bei der Lehrabschlussprüfung lassen sie mich durchfliegen, der Prüfer mag mich nicht. Ich hab ihn beim ersten Antritt ausgebessert, da hat er gesagt, ich brauch gar nicht mehr kommen. Ich bin trotzdem ein zweites Mal hin, da haben sie mich wieder durchfallen lassen. Jetzt zögere ich.

Sie haben aber noch nicht aufgegeben.
Daniel: Nein, noch nicht. Ich will es zu Ende machen. Alleine, damit ich einen Abschluss habe.
Dominik: Ich habe beim AMS zwischendurch den ECDL-Kurs gemacht.

Warum, glauben Sie, klappt es nicht mit einer Arbeit oder einer Ausbildung?
Dominik:
Jeder Trottel kriecht dem Chef heute in den Arsch. Die, die arbeiten, kriegen nichts dafür.

Was würden Sie gerne arbeiten?
Dominik:
Das ist es eben: Für einen IT-Job bräuchte ich ein Studium. Das ist ein jahrelanges Hinarbeiten, das ist auch nichts.

Gibt es einen Plan B?
Dominik:
Plan B ist Hilfsarbeiter im Einzelhandel.

Machen Sie das gerade?
Dominik:
Ich will zur Zeit nicht. Ich pack’s nicht.
Daniel: Das kenn ich. Es ist bei vielen sicher auch psychisch bedingt, dass sie nicht mehr wollen.

Könnten Sie sich vorstellen, Jahre in eine Ausbildung zu investieren, damit sich die Lage verändert?
Dominik:
Eigentlich mache ich mir darüber keine Gedanken.
Daniel: Ich hab mir lange viele Gedanken gemacht. Bei der Lehrabschlussprüfung war ich immer wieder am Lernen, konnte alles. Aber ich habe Prüfungsangst und Blackouts. Im Mai ist meine Oma verstorben. Seit dem hatte ich keine Lust zu lernen.

Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?
Dominik: Wir versuchen, die Zeit totzuschlagen, sind teilweise unterwegs, teilweise im Haus.

Im Haus gibt es die Möglichkeit, in der JuCantine zu arbeiten. Nützen Sie die?
Daniel:
Nicht mehr.
Dominik: Wir kommen nicht mit dem Betreuer klar.

Wovon leben Sie?
Dominik:
Notstandshilfe. Seit ich 18 bin.
Daniel: Von der Mindestsicherung, seit drei Jahren. Zu lang. Schon viel zu lang.

Was ist Ihr Wunsch an die Zukunft?
Daniel:
Endlich die Lehre fertig zu machen und hoffentlich bald einen Job zu finden.
Dominik: Ich habe keinen Wunsch mehr. Ich hab schon alles aufgegeben. Für mich zahlt es sich nicht mehr aus.
Daniel: Warum?
Dominik: Ich lebe in den Tag hinein, mehr nicht. Wenn ich eine Arbeit kriege, gerne. Aber wünschen tu ich mir nichts. EDV-Techniker würde mich interessieren. Aber die Firmen, kommt mir so vor, nehmen eben nur Leute, die studiert haben. Einen Lehrberuf in einem Bereich, wo man keine Vorkenntnisse braucht – da fällt mir nur der Einzelhandel im Elektrik-Bereich ein. Das interessiert mich aber überhaupt nicht.

Die Aussicht auf ein Gehalt lockt Sie nicht?
Dominik: Nein. Das Gehalt kann mir egal sein. Ich bin jahrelang komplett ohne Geld ausgekommen. Es hat mich auch noch nie interessiert.

Kommen wir noch einmal zu Ihrer Vorstellung von der Zukunft. Wie wollen Sie einmal leben?
Daniel: Ich bin ein Familienmensch. Ich will mindestens ein Kind haben. Und ich will als Maler arbeiten. In Wien leben muss nicht sein, Niederösterreich wäre auch schön, die Ruhe genießen.
Dominik: Ich möchte alleine leben.

Im JUCA-Haus kann man nur zwei Jahre lang leben. Was soll dann passieren?
Dominik:
Keine Idee.
Daniel: Das ergibt sich dann hoffentlich.

Keine Ausbildung, keine Zukunft
Daniel (Name geändert) und Dominik leben seit einem Jahr im Caritas JUCA-Haus

Je niedriger die Qualifikation, desto höher das Risiko für Arbeitslosigkeit: Diese Formel gilt besonders für Jugendliche. Etwa 5000 junge Menschen zwischen 14 und 17 Jahren fallen pro Jahr aus dem Bildungssystem – sie haben keine Berufsausbildung. Um diese Jugendlichen in einen Beruf zu bringen, wurde die Ausbildungspflicht bis 18 beschlossen.

Das bedeutet konkret: Die Erziehungsberechtigten müssen dafür sorgen, dass Jugendliche nach der Schulpflicht bis 18 Jahre eine weitere Ausbildung bekommen. Sie können entweder eine weiterführende Schule besuchen oder eine Lehre absolvieren. Die Ausbildungspflicht gilt ab Juli 2017 für alle Jugendlichen, die die Pflichtschule im Schuljahr 2016/2017 bzw. danach abschließen. Die Sanktionen (in Form von Geldstrafen) treten mit 1. Juli 2018 in Kraft. 25 Millionen Euro werden 2017 für diese Initiative bereitgestellt, 60 Millionen Euro werden es ab 2020 sein. Auch eine Werbekampagne wird aktuell gestartet (www.ausbildungbis18.at).

Direkte Ansprache Konkret werden Anlaufstellen für Jugendliche und Eltern geschaffen. Von dort aus leitet man Beratungs- und Betreuungsmaßnahmen ein, in enger Kooperation mit dem AMS, dem Jugendcoaching und anderen Partnern. Mit den Jugendlichen wird direkt und individuell ein Perspektiven- und Betreuungsplan ausgearbeitet.

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