Hartz IV: "Die dunkle Seite des deutschen Jobwunders"

Klaus Dörre
Deutschland bringe die Arbeitslosigkeit nur statistisch zu verschwinden, die Arbeitslosen selbst blieben durch Hartz IV "im Hamsterrad", sagt Soziologe Klaus Dörre.

Industrielle und Teile der ÖVP wollen in Österreich den Druck auf Arbeitslose erhöhen und fordern Maßnahmen nach Vorbild der deutschen Hartz-IV-Reformen (siehe Erklärung unten). Der deutsche Arbeitsmarktexperte und Soziologe Klaus Dörre von der Universität Jena untersuchte die sozialen Auswirkungen von Hartz IV – und kommt zu einem vernichtenden Urteil.

KURIER: In Österreich steigt die Arbeitslosigkeit, in Deutschland sinkt sie. Was machen die Deutschen besser?

Klaus Dörre: Das deutsche Beschäftigungswunder hat eine dunkle Seite. Es beruht darauf, dass es einen Niedriglohnsektor gibt, der kontinuierlich zwischen 22 bis 24 Prozent der Beschäftigung (in Österreich rund 9 Prozent, Anm.) beträgt. Das Sinken der Arbeitslosigkeit wird erkauft durch mehr prekäre, weil schlecht entlohnte und wenig anerkannte Beschäftigung. Es bringt die Arbeitslosigkeit nur rein statistisch zum Verschwinden. Deutschland tendiert vielmehr zur prekären Vollerwerbsgesellschaft. Mit Hartz IV wurde zudem eine Regelung geschaffen, die immensen Druck ausübt, solch unsichere, schlecht bezahlte und wenig anerkannte Tätigkeiten auch anzunehmen.

Welchen Anteil hat Hartz IV an den aktuell niedrigen Arbeitslosenzahlen in Deutschland?

An der unmittelbaren Wirkung auf die Beschäftigung fast gar keinen. Einen größeren Anteil hat sicher die Tatsache, dass derzeit starke Jahrgänge in Pension gehen. Beim harten Kern der Arbeitslosigkeit, also bei den Langzeitarbeitslosen, tut sich ganz wenig. Die hat sich bei den Älteren sogar weiter verfestigt. Die Hartz-IV-Bezieher bleiben heute länger im Bezug als früher bei der Sozialhilfe. Der Effekt ist kein nachhaltiger.

Eine der Hartz-IV-Philosophien lautet ja, jede Arbeit ist besser als gar keine Arbeit. Stimmt das?

Bei irgendeinem Job ist die Beschäftigung meist nicht von langer Dauer, es kommt rasch zum Rückfall in die Grundsicherung. Wenn dies über lange Zeit so läuft und sich der Status nicht verbessert, dann macht das etwas aus den Menschen. Prekäre Beschäftigung dequalifiziert, macht krank und führt zu Resignation, weil man schwer wieder rauskommt.

Ein Mal Hartz IV, immer Hartz IV?

Mehr als die Hälfte jener, die neu in den Hartz-IV-Bezug reinkommen, waren schon einmal drin. Das nennen wir zirkulare Mobilität. Die fühlen sich wie im Hamsterrad. Je länger das andauert, desto mehr brennen die Leute aus, werden krank oder verlieren die Motivation. Das werden resignative Menschen, die schwer in den Job zurückkommen. Genau das wollte Hartz IV verhindern.

Viele Hartz-IV-Bezieher fühlen sich stigmatisiert...

Wer Hartz IV bezieht, ist kein voll anerkannter Bürger dieser Gesellschaft mehr, sondern steht ständig unter Druck, nachweisen zu müssen, kein Faulenzer zu sein. Damit wird Arbeitslosigkeit individualisiert und das Klischee der faulen, arbeitsscheuen Menschen bedient. In der Studie haben wir es provokant so formuliert, dass Hartz IV einen ähnlichen Status hat wie die dunkle Hautfarbe in den USA. Wer lange im Leistungsbezug von Hartz IV war, wird stigmatisiert und diskreditiert,denken Sie nur an die Bewerbungen.

Was sind die Folgen einer solchen Stigmatisierung?

Im sozialen Umfeld entstehen jede Menge Vorurteile, die auf die Betroffenen zurückgespiegelt werden. Die Scham führt dazu, dass sie sich oft nur noch unter Ihresgleichen bewegen. Dies schwächt erst recht die Chancen des Job-Wiedereinstiegs. Anders als die dunkle Hautfarbe kann man den Hartz-IV-Status verändern. Das ist aber äußert schwierig, weil erst gegen Vorurteile und Stigmata angekämpft werden muss.

In Österreich ist die Mindestsicherung oft nicht viel geringer als das angebotene Gehalt. Fehlt da nicht der Arbeitsanreiz?

Da muss man sehr vorsichtig sein. Mit dem Abbau von wohlfahrtsstaatlichen Sicherungen steigt nicht automatisch die Arbeitsmotivation. Werden aber Sozialleistungen gekürzt, sinkt auch das Lohnniveau. Weil die Löhne zu gering zum Leben sind, müssen viele das Gehalt ja mit Mindestsicherung aufstocken. In der Regel haben wir es mit einem strukturellen Problem zu tun, es wird nicht genug attraktive Beschäftigung geschaffen. Arbeitslosigkeit zu individualisieren und zu polarisieren halte ich für problematisch. Das führt zu einer sozialen Spaltung der Gesellschaft.

Zum Thema Flüchtlinge: Viele Menschen sehen nicht ein, warum jene, die nicht arbeiten, fast gleich viel bekommen wie jene, die arbeiten.

Das ist eine hochbrisante Diskussion, die wir in Deutschland in der Debatte um die Aussetzung des gesetzlichen Mindestlohns für Flüchtlinge auch haben. Eine Lohnabsenkung bedeutet aber, dass jene, die am wenigsten verdienen, in direkte Konkurrenz zu jenen gesetzt werden, die neu hinzukommen. Wenn man die Fremdenfeindlichkeit fördern will, muss man genau das tun. Das hat eine politisch verheerende Wirkung.

Eine Kürzung der Mindestsicherung wie etwa in Oberösterreich fördert also die Job-Integration nicht unbedingt?

Ich zweifle daran. Flüchtlinge haben eine hohe Motivation zu arbeiten, daher ziehen sie lieber in die Städte, wo es mehr Chancen gibt. Nur wenn man ihnen weniger zahlt, wird die Motivation nicht gesteigert. Es müsste eher mehr in Sprachkenntnisse und Qualifizierung investiert werden. Dort, wo dies gelingt, sind die Erfolge eindrucksvoll. Das ist der entscheidende Hebel. Es kann nicht darum gehen, mit Migranten eine neue Unterklasse zu produzieren und dadurch Rassismus zu fördern. Schauen Sie sich die USA an, wo eine Unterschicht von zehn bis 15 Prozent ökonomisch nicht mehr gebraucht wird. Die Art der Befriedung ist, dass man die Gefängnisse füllt. Das ist Wahnsinn.

Klaus Dörre (59) lehrt und forscht als Professor für Soziologie an der Universität Jena. Spezialgebiete sind u.a. die Auswirkung von Arbeitsmarktpolitik, flexible und prekäre Beschäftigung. Dörre ist auch wissenschaftlicher Berater der globalisierungskritischen Organisation Attac.

Arbeitslosengeld II
Mit den deutschen Hartz-IV-Reformen wurden 2005 Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zusammengeführt. Das Arbeitslosengeld I wird nur für ein Jahr bezahlt, danach gibt es das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) mit einheitlicher staatlicher Grundsicherung. Diese beträgt dzt. 404 Euro monatlich für Alleinstehende (exkl. Wohnbeihilfe und diverser Zuschläge). Ziel ist die rasche Reintegration in den Job auch durch Selbstständigkeit (Ich-AGs) oder prekäre Beschäftigung.

5,9 Millionen Bezieher

Insgesamt gab es Ende April 2016 (aktuellste Zahl) 5,93 Millionen Bezieher der Hartz-IV-Grundsicherung, um 1,2 Prozent weniger als vor einem Jahr Gesteigen ist die Zahl der ausländischen Bezieher, und zwar um 12,4 Prozent auf 1,5 Millionen. mmer mehr Deutsche beziehen dauerhaft Hartz IV. 2015 waren 195.000 Arbeitslose über 55-Jährige mehr als vier Jahre im Bezug, um 40 Prozent mehr als vor fünf Jahren. Damit bezogen fast zwei Drittel aller älteren Hartz-IV-Empfänger vier Jahre oder länger die staatliche Grundsicherun.

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