Grüne Woche: "Almauftrieb" und andere Kuriositäten

Einmal Kopfmassage bitte
Die Berliner Messe als Politspektakel, Fressmeile und Leistungsschau der Agrarindustrie.

"Hölle! Hölle! Hölle!", grölt die Männerrunde im Chor. Ihre Hände schnalzen in die Höhe, dorthin, wo das Schild mit der Aufschrift "Qualität kommt aus Holland" baumelt. Die Augen der Herren sind aber auf die Band gerichtet, die mit Aprés-Ski-Hits Stimmung in die Holland-Halle auf der Grünen Woche bringt. Wolfgang Petrys Schlager "Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle" war erst der Anfang.

Auf Tischen stapeln sich riesige Käselaibe neben Gemüsepflanzen. Die Menschen schunkeln, das Bier fließt, die Stimmung steigt. Nur der ältere Herr, der sich mit seinem Rollator durch die tanzende Menge schiebt, ist etwas angespannt.

Grüne Woche: "Almauftrieb" und andere Kuriositäten
Grüne Woche, Berlin

An seinem Handgelenk baumelt ein Plastiksackerl mit Käse, den er von der holländischen Dame in Tracht gekauft hat. Es ist 14 Uhr. Beim einen oder anderen Besucher Stunde vier nach dem ersten Bier.

"Fressmeile"

Die Grüne Woche ist unter den Berlinern als "Fressmeile" bekannt. Dafür sorgen 1650 Aussteller aus 66 Ländern. Viele von ihnen locken mit Kostproben. Das kulinarische Angebot reicht vom "Saumagen im Brötchen" bis zum rohen Lachs auf Fenchelsalat. Dazu viel Flüssiges zum Verdauen. Etwa 5-jähriger Cognac aus Armenien, der wahlweise in Flaschen in Gewehrform verkauft wird. "Mundgeblasenes Glas, ein tolles Geschenk", beteuert die Standlerin.

Die Grüne Woche will aber viel mehr sein als eine "Fressmeile". Aus Sicht der Agrarfunktionäre ist sie der Branchentreff schlechthin. Von EU-Agrarkommissar Phil Hogan abwärts sind alle da, darunter Dutzende Landwirtschaftsminister mit ihrer Entourage. Delegationen in schwarzen Anzügen schieben sich durch die Hallen, der deutsche Agrarminister wird regelrecht von Stand zu Stand getrieben. Überall muss er Hände schütteln und fürs Foto lächeln.

Grüne Woche: "Almauftrieb" und andere Kuriositäten
Grüne Woche, Berlin

Die Messeleitung spricht gerne von einer "Leistungsschau" der Landwirtschaft, auch wenn das für Besucher in vielen Hallen schwer zu erkennen ist. In Halle 26 blubbern zahlreiche Whirlpools vor sich hin. Auf Riesengrillern liegen Kotelettes aus Plastik. Wer bei dem Angebot müde wird, lässt sich in einen der Luxus-Strandkörbe fallen. Das machen viele – für ein Selfie.

Stallluft in Berlin

In Halle 25 schnuppern Großstädter tatsächlich Stallluft. Hinter schmucken Holzzäunen stehen Kühe, Schafe, Ziegen, Pferde auf Stroh. Eine Idylle, wie es sie in Industrieställen nicht mehr gibt. Ein Besucher klatscht dem Zucht-Bullen Rambo begeistert aufs Hinterteil: "Na, Alter!", ruft er und macht hastig einen Schritt zurück, als sich das Tier zu ihm umdreht. Gejohle, dann ist plötzlich Ruhe im Kuhstall, die Herrschaften ziehen hastig weiter. Weil Kuh Talida ihren Darm entleert hat. "Igitt", sagt einer empört.

Grüne Woche: "Almauftrieb" und andere Kuriositäten
Grüne Woche, Berlin

"Die Menschen haben sich von der Landwirtschaft entfremdet, wir müssen sie ihnen wieder näherbringen", sagt Helmut Evers, Landwirt aus Niedersachsen. Er erklärt den Großstädtern, was ein Bauer den ganzen lieben Tag lang so macht. Seine Zunft hat ein Imageproblem, das weiß er. Dagegen will er etwas machen. YouTube-Videos etwa. Vor drei Jahren haben niedersächsische Bauern – sie liefern ein Fünftel der deutschen Milch – begonnen, kleine Filme aus ihrem Alltag zu drehen und auf mykuhtube.de ins Internet zu stellen. "Wir haben schon eine Million Seher", ist Evers sichtlich stolz. Der Film, der gerade abgespielt wird, zeigt eine Katze und ihre Jungen im Heu. Danach wälzt sich ein Esel im Gras. Bilder, fernab der Massenproduktion.

In Industrieställen braucht der Bauer schon eine entsprechende Software, um den Überblick über seine Tiere zu bewahren. Auch diese wird auf der Messe angepriesen. "Wenn Sie heute eine Kuh besamen, bekommen sie in 280 Tagen vom System automatisch eine Erinnerung, dass das Kalb kommt", erklärt eine Dame und tippt am iPad herum. Das Programm erinnert praktischerweise auch ans Düngen oder Impfen. Während der Bauer am Laptop sitzt, spaziert seine Kuh freiwillig im modernen Stall zum Melkautomaten, der sie melkt – Aufzeichnung der genauen Milchleistung inklusive. Stallleben 4.0 quasi.

10.000 Demonstranten

Grüne Woche: "Almauftrieb" und andere Kuriositäten
Farmers protest with a banner reading "agriculture companies : fingers off our food !" during a rally in the center of Berlin against the industrialization of farming and agriculture on January 21, 2017, on the sidelines of the Green Week (Grüne Woche) agricultural fair. / AFP PHOTO / Tobias SCHWARZ

In Berlin fahren derweil 130 Traktoren im Konvoi auf. 10.000 Tierschützer demonstrieren lautstark gegen Massentierhaltung und halten Schilder mit Aufschriften wie "Agrarkonzerne – Finger weg von unserem Essen" oder "Wir haben es satt" in die Höhe. Die Betroffenen lassen das nicht unkommentiert. Sie sind mit rund 50 Traktoren zur Gegendemo gekommen. Ihr Slogan "Wir machen euch satt".

Hinweis: Die zehntägige Schau der Landwirtschaft, Ernährungs- industrie und des Gartenbaus läuft noch bis 29. Jänner am Messegelände Berlin. 1650 Aussteller aus 66 Ländern sind angereist und erwarten rund 400.000 Besucher. Wichtige politische Themen sind höhere Standards bei der Haltung von Nutztieren, mehr Transparenz für die Kunden und Umweltschutz. Nähere Infos siehe hier

Kommentare