Faktencheck: Produziert Deutschland so viel billiger?

Voestalpine-Mitarbeiter am Standort Donauwitz
Streit über die Industrielöhne: Wie es wirklich um Österreichs Wettbewerbsfähigkeit bestellt ist.

Hinter Qualitätszeitungen stecken kluge Köpfe: Aufmerksame KURIER-Leser entdeckten die Widersprüche in den Interviews mit Arbeiterkammer-Direktor Christoph Klein und IV-Generalsekretär Christoph Neumayer. Zu den Kosten der Industrie in Österreich und Deutschland waren die Aussagen geradezu diametral.

Die Lohnstückkosten (Erklärung unten) hätten sich "parallel zu Deutschland" entwickelt, behauptete Arbeiterkammer-Direktor Klein. Wenige Tage danach widersprach Industrie-Sprecher Neumayer: Die Löhne seien zu rasch gestiegen. Bei den Lohnstückkosten habe Österreich in den vergangenen zehn Jahren "teilweise massiv gegenüber unseren Mitbewerbern verloren – auch gegenüber Deutschland".

Zum Interview mit Christoph Klein (2. Jänner 2017): "Den Standort nicht krankreden"

Zum Interview mit Christoph Neumayer (5. Jänner 2017): "Die Ideologiegetrie­be­nen haben Oberwasser"

Was stimmt denn nun?

- Entwicklung der Lohnstückkosten ab 2005

Als Schiedsrichter befragte der KURIER zwei deutsche Wirtschaftsexperten.

Die Lohnstückkosten der deutschen Industrie seien von 2005 bis 2015 um 5,5 Prozent gestiegen, sagt Christoph Schröder vom arbeitgebernahen Institut der Wirtschaft (IW) Köln. In Österreich seien es knapp 9 Prozent gewesen. Schröders Resümee: "Über zehn Jahre betrachtet haben sie sich recht ähnlich entwickelt." Der Anstieg sei in Österreich zwar etwas höher ausgefallen. Die 3,5 Prozentpunkte Differenz werte er aber "nicht als eine dramatische Verschlechterung".

Der Verlauf sei seit der großen Rezession 2008 "sehr ähnlich, fast parallel", bestätigt Ulrike Stein vom gewerkschaftsnahen Institut IMK in Düsseldorf.

Die Wahrheit liegt also, wie oft, in der Mitte. Lohnstückkosten gestiegen: Ja. Massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren: Nein.

Link zur Studie des IW Köln, Link zur Studie des IMK.

Faktencheck: Produziert Deutschland so viel billiger?

- Das Basisjahr entscheidet

Statistiken lügen zwar nicht. Sie zeigen aber nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit.

So war das Bild in den 1990er-Jahren ganz anders. Damals seien die Lohnstückkosten in Österreich leicht gesunken, in Deutschland aber gestiegen, sagt Schröder. Eine Folge davon war, dass Deutschland 1999 als "kranker Mann Europas" galt; die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe. Deshalb gab es einen Schulterschluss von Gewerkschaft und Politik. Mit einer Rosskur ("Agenda 2010") wurden die deutschen Löhne von 2003 bis 2007 gedrückt.

In diesen Jahren stiegen Österreichs Lohnstückkosten verglichen mit dem Nachbarland klarerweise an – aber weniger schnell als der Euroraum-Durchschnitt, so Stein.

- Bedrohliche Tendenz?

Von 2007 bis 2015 sind die Lohnstückkosten in Deutschland und in Österreich deutlich angestiegen. Ist das ein Grund zur Sorge? Ja, sagt Schröder: Er befürchtet, dass die Wettbewerbsfähigkeit erodiert. Nein, sagt Stein: Damit würde nur die Lohnzurückhaltung aus der Zeit vor der Krise etwas kompensiert. Die nackten Zahlen tragen wenig zur Aufklärung bei – das ist eine Sache der Interpretation.

- Reine Arbeitskosten

Bei den Arbeitskosten pro Stunde liege Österreichs Industrie "deutlich niedriger als Deutschland", behauptete AK-Direktor Klein im Interview. Das stimmt, aber riesig sind die Unterschiede nicht. In Deutschland kostet die Industrie-Arbeitsstunde 39 Euro, in Österreich 36 Euro. Dafür sind im Gegenzug die heimischen Dienstleister teurer. In Summe unterscheiden sich die Arbeitskosten in der Privatwirtschaft (32,60 Euro je Stunde) nur im Cent-Bereich von unseren Lieblingsnachbarn (32,70 Euro).

Faktencheck: Produziert Deutschland so viel billiger?
Dramatisch billiger ist die Industriearbeit bei unseren (nord)östlichen Nachbarn; in Tschechien kostet die Stunde nur 10 Euro. Das wäre aber eine einseitige Sichtweise, denn dort wird nicht so effizient gearbeitet. Berücksichtigt man Kosten und Produktivität, liegt Österreich mit 88 Prozent des deutschen Niveaus (siehe Tabelle) gar nicht so schlecht. Tschechiens Lohnstückkosten sind noch um eine Spur billiger (79 Prozent).

- Ausstoß der Industrie

Österreichs Industrieproduktion habe seit 2010 stärker zugelegt als die deutsche, somit könne nicht alles schlecht sein, argumentiert AK-Direktor Klein. Stimmt. Wählt man statt 2010 aber 2009 als Vergleichsjahr, fällt Österreichs Industrie weit zurück – weil der Einbruch, den Deutschland wettzumachen hatte, viel größer war.

Mehr Hintergründe dazu hier: "Abgesandelt oder weltmeisterlich? Österreichs Industrie unter der Lupe"

- Conclusio

Weder der AK-Direktor noch der IV-General haben also Falsches behauptet. Beide sind aber Profi-Lobbyisten: Sie wählen die Beispiele so, dass sie ihre Argumentation stützen. Und sie tragen dabei etwas dick auf.

Faktencheck: Produziert Deutschland so viel billiger?
Daten für das Verarbeitende Gewerbe im internationalen Vergleich 2015, Deutschland = 100

Was, bitteschön, sind Lohnstückkosten?

Standorte im Wettbewerb

Der Preis ist sicher nicht alles: Ein guter Wirtschaftsstandort braucht qualifizierte Mitarbeiter, eine solide Infrastruktur, einen funktionierenden Rechtsrahmen, stabile politische Verhältnisse, günstige Energie und vieles mehr. Natürlich spielen aber auch die Arbeitskosten eine wichtige Rolle.

Vor allem die Lohnstückkosten sind deshalb eine beliebte Maßzahl für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Sie bezeichnen die Arbeitskosten, die nötig sind, um eine Einheit eines Produktes herzustellen – Experten sprechen vom Verhältnis von Arbeitskosten und Produktivität. Die Idee ist, dass die Löhne und Gehälter in jenem Ausmaß steigen sollten, in dem die Wirtschaft effizienter wird (in Österreich auch als „Benya-Formel“ bekannt).

Das Thema löst reflexartige Reaktionen aus. Die Industrie sorgt sich ständig um ihre Konkurrenzfähigkeit, falls die Löhne zu rasch steigen. Und die Gewerkschaft fürchtet, dass die Arbeitnehmer keinen fairen Anteil an den Gewinnen erhalten.

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