Draghi greift tief in die Taschen

Ab März 2015 bis Ende September 2016 wird die Europäische Zentralbank Monat für Monat Wertpapiere im Wert von 60 Milliarden Euro aufkaufen, wie EZB-Chef Mario Draghi mitteilte.
Die EZB flutet die Märkte mit Geld – Nowotny: "Haben unser letztes Pulver verschossen"

Am Anfang stand das Warten: Sieben Minuten spannte Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), die Weltöffentlichkeit auf die Folter. Und das bei einer Pressekonferenz, von der eine historische Entscheidung erwarten wurde.

Ein Signal, dass die Notenbanker uneinig sind? Ein Hinweis auf überlange Debatten? "Interpretieren Sie nicht zu viel in diese Verzögerung hinein", erklärte Draghi schmunzelnd: "Wir hatten ein Problem mit dem Aufzug." Also gewissermaßen ein Treppenwitz der EZB-Historie.

Draghi überrascht

Danach schaffte es Draghi allerdings, die hoch gesteckten Erwartungen noch zu übertreffen. Die EZB wirft die Druckerpressen an und flutet die Finanzmärkte mit Geld: Ab März 2015 bis Ende September 2016 wird sie Monat für Monat Wertpapiere im Wert von 60 Milliarden Euro aufkaufen – in Summe also unglaubliche 1,14 Billionen Euro. Umgerechnet ein Betrag von 3400 Euro pro Einwohner.

Und dabei ist womöglich das Ende der Fahnenstange noch gar nicht erreicht: Das Programm soll nämlich so lange laufen, bis die Teuerungsrate wieder auf dem Weg in Richtung zwei Prozent ist – so lautet die offizielle Zielvorgabe für die EZB.

Börsen-Hochschaubahn

Der Grund für die gewaltige Geldschwemme: Die Wirtschaftsentwicklung in Europa hat sich in den letzten Monaten dramatisch abgeschwächt. Die Unternehmen investieren zu wenig, weil sie nicht darauf vertrauen, dass sich ihre Geschäftslage verbessern wird. Dadurch – und angetrieben durch den stark gefallenen Ölpreis – sinken die Preise.

Bevor sich diese pessimistische Stimmung verfestigt, will die EZB mit einer Geldschwemme die langfristigen Zinsen senken, die Kreditvergabe der Banken ankurbeln und die Unternehmen zum Geldausgeben motivieren (siehe weiter unten).

An den Börsen war diese Botschaft am Donnerstag angekommen. Der Wiener Leitindex ATX reagierte mit einem kleinen Freudensprung: plus 1,74 Prozent. Der deutsche Börsenindex DAX, der seit Tagen von einem Rekord zum nächsten eilt, legte einen wilden Ritt auf der Hochschaubahn hin und landete schlussendlich bei einem neuen Allzeithoch von 10.436 Punkten (plus 1,32 Prozent).

Euro auf Elf-Jahres-Tief

Das Kaufprogramm, im Fachjargon „Quantitative Easing“ (QE, sprich „Kjuh-iih“) genannt, schwächt obendrein den Euro. Die Gemeinschaftswährung stand Freitag Früh weiter unter Druck: Nach der Ankündigung der EZB, eine neue Geldschwemme zu starten, kostete die europäische Gemeinschaftswährung im Tief 1,1315 US-Dollar. Das ist der niedrigste Stand seit September 2003.

Weil die Kurse von Euro und Dollar gefallen sind, fallen 13 bis 14 Prozent der Firmengewinne in der Schweiz auf einen Schlag weg. Davon geht UBS-Chefökonom Daniel Kalt aus, wie er in einem Interview mit dem Blick vom Freitag sagte. Gegen 90 Prozent der Gewinne der börsennotierten Schweizer Firmen würden im Ausland erwirtschaftet, so Kalt weiter. Wegen des Kurssturzes von Euro und Dollar würden deren Gewinne nun "weggefressen".

Nowotny: "Pulver verschossen"

Der EZB-Schritt ist keine völlige Premiere: In den USA und in Großbritannien ist es den Notenbanken gelungen, das Wachstum anzukurbeln. In Japan hat das nicht funktioniert. Für die Europäische Zentralbank ist es ein Experiment mit bisher ungeahnten Ausmaßen – sie muss schließlich 19 Euroländer unter einen Hut bringen.

Das ruft naturgemäß Kritiker auf den Plan. Die Entscheidung sei im obersten EZB-Gremium mit einer "großen Mehrheit" gefallen, sagte Draghi – also nicht einstimmig. Ungewohnt drastisch formulierte Österreichs Notenbank-Gouverneur Ewald Nowotny in der ZiB2 seine Kritik: "Uns muss klar sein: Wir haben mehr oder weniger unser letztes Pulver verschossen", sagte Nowotny. Er hätte dafür plädiert, noch abzuwarten.

"Ich habe diesen Beschluss ganz offen gesagt nicht mit getragen, weil ich glaube, dass er zu früh gekommen ist", sagte Nowotny darüber hinaus am Freitag im Ö1-Morgenjournal. Seiner Meinung nach hätte man abwarten sollen, wie sich die bisher von der EZB gesetzten Maßnahmen auswirken.

Deutschland profitiert

Besonders in Deutschland gibt es Befürchtungen, dass es den Euro-Krisenländern allzu einfach gemacht wird und sie vom Sanierungskurs abkommen.

Zumindest teilweise konnte sich Berlin durchsetzen. Die EZB wird nicht etwa Ramsch-Anleihen aus Krisenländern aufkaufen, sondern sich streng an den Anteilsschlüssel der EZB halten: Das heißt, dass vor allem Papiere aus Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien erworben werden. Und es werden nicht mehr als ein Drittel der Gesamtschulden eines Staates übernommen – das beschränkt den Kauf griechischer Schuldpapiere.

Geringe Risikoteilung

Besonders intensiv hatte Beobachter aus Deutschland beschäftigt, wer die Verluste trägt, wenn einer der Staaten pleitegehen sollte. "Eine nutzlose Debatte", kritisierte Draghi. Dennoch: Nur 20 Prozent der Anleihen werden einer gemeinsamen Risikohaftung unterliegen. 80 Prozent der Staatsanleihenkäufe werden auf das Konto der nationalen Notenbanken gehen; sie tragen also das Risiko für die Finanzen ihres Landes. Das könnte dazu führen, dass starke und schwache Länder im Euroraum noch weiter auseinanderdividiert werden.

Laut Nowotny wird die OeNB gemäß ihren EZB-Anteilen - überwiegend österreichische - Staatspapiere im Wert von drei Milliarden Euro pro Monat kaufen. "Für den Steuerzahler hat das unmittelbar keinen Effekt", so Nowotny im ORF.

Politische Ambitionen?

Einige Kritiker machen übrigens andere Beweggründe für Draghis beherztes Eingreifen aus. Er helfe so seinem hochverschuldeten Heimatland und wolle in Kürze italienischer Präsident werden. Aber ob das nicht in Wahrheit ein Abstieg wäre? Spätestens seit Donnerstag gilt Draghi vielen als der mächtigste Mann Europas.

Draghi greift tief in die Taschen

Wann ist die Krise endlich zu Ende? Die bestmögliche Antwort lautet: Wenn bei den Zentralbanken wieder Normalität einkehrt. Und das ist, wie die jüngste Entscheidung der Europäischen Zentralbank zeigt, in Europa noch lange nicht der Fall. Sie wird bis Herbst 2016 frisches Geld im Wert von unglaublichen 1,14 Billionen Euro drucken, um damit der Konjunktur – und indirekt auch der Preisentwicklung – auf die Sprünge zu helfen.

Das zeigt, wie sehr sich die Wirtschaftslage in den USA und Europa seit der Krise auseinanderentwickelt hat. Und zwar leider zuungunsten des alten Kontinents. In den USA durfte Präsident Barack Obama die Krise soeben für beendet erklären – mit einigem Recht. Die US-Notenbank lässt ihre Notmaßnahmen auslaufen, für Sommer wird die Wende zu höheren Zinsen erwartet. Alles Anzeichen einer langsamen Gesundung.

In Europa sieht es nicht so gut aus. Der Patient liegt noch auf der Intensivstation und Doktor Draghi hat ihn soeben an einen neuen, riesigen Tropf angehängt.

Fair ist das nicht. Schließlich hatte die Krise ihren Ursprung bei amerikanischen Ramsch-Krediten. Dass sich die USA so viel rascher erfingen, hat vor allem drei Gründe: Sie mussten sich nicht mit einer Griechenland-Krise und einem möglichen Währungskollaps aufhalten. Ihre Schiefergas-Förderung ermöglichte ein imposantes Industrie-Comeback. Und die Amerikaner haben, in unerschütterlichem Optimismus, nicht lange gefackelt, sondern gleich mit riesigem Geldeinsatz gegen die Krise angekämpft. Europa folgt nun mit erheblicher Verspätung.

Wird diese enorme Geldspritze reichen? Eines steht fest: Die EZB schöpft ihre Möglichkeiten voll aus. Sie will sich nicht vorwerfen lassen, nicht alles in ihren Kräften Stehende gegen einen neuerlichen Absturz in die Rezession oder die gefürchtete Deflation getan zu haben.

Die EZB kann aber nicht alleine für die Gesundung sorgen. Billiges Geld macht wenig Unterschied – daran bestand schon bisher kein Mangel. Viel entscheidender ist, ob nun mehr von den Regierungen kommt. Die EZB hat den Boden bereitet, jetzt müssen ernsthafte Reformen folgen. Nur dann können die Unternehmer neues Vertrauen schöpfen, dass sich Investitionen lohnen, und die Konsumenten die Geldbörse öffnen, ohne sich darum sorgen zu müssen, ob sie auch morgen noch einen Job haben werden. Das würde die Wirtschaft auf einen Wachstumspfad bringen.

Damit sind nicht allein die Krisenländer gemeint. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel macht sich jetzt schon Sorgen, wie die EZB aus diesem Krisenprogramm wieder rauskommt – noch bevor die erste Anleihe gekauft wurde. Ist Berlin überhaupt bewusst, wie ernst der Zustand der Eurozone noch ist? Und Österreichs Regierung gelingt es bis dato überhaupt nicht, mit der geplanten Steuerentlastung für positive Stimmung zu sorgen – die Bevölkerung zittert eher vor neuen Belastungen. Das Wort "Krise" meinte ursprünglich den Wendepunkt bei einer gefährlichen Erkrankung. Zum Besseren oder weiter bergab? Das hängt nicht mehr von den Künsten des Dr. Draghi ab.

„Ich sehe Vorteile, aber auch Problembereiche. Es soll ein Beitrag zur Wirtschaftsbelebung sein und damit die Gefahr einer Deflation beseitigen. Wir haben aber bereits einige Programme vorgenommen. Ich glaube, es wäre sinnvoll, deren Wirkung voll abzuwarten. Wir haben mehr oder weniger unser letztes Pulver verschossen - und damit soll man sehr vorsichtig sein. Das Argument (für das hohe Volumen, Anm.) ist, dass man die Märkte beeindrucken soll. Ich bin aber der Meinung, eine Notenbank soll nicht versuchen, den Märkten zu folgen, sondern ihnen bestimmte Entwicklungen vorgeben. Die Oesterreichische Nationalbank wird um rund 3 Milliarden Euro pro Monat überwiegend österreichische Staatspapiere kaufen. Für den Steuerzahler hat das unmittelbar keinen Effekt." Ewald Nowotny, Österreichs Notenbank-Chef und EZB-Ratsmitglied, in der ORF-ZIB2.

„Wir begrüßen die Maßnahmen, die die EZB angekündigt hat. Das wird helfen, die Kreditkosten in der gesamten Eurozone zu senken und die Gefahr einer länger andauernden Phase mit niedriger Inflation zu reduzieren. Wichtig ist, dass die lockere Geldpolitik umfassend und rasch unterstützt wird - vor allem durch Strukturreformen und eine Politik, die für Nachfrage sorgt." Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF)

„Das war ein später, aber richtiger Schritt. Der EZB-Kurs ist nur eine von drei Säulen der Erholung: Auch die Investitionen und Reallöhne müssen steigen, um wieder Wachstum zu erhalten." Karl Aiginger, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo)

„Es wird eine ganz große Illusion geboten. Nämlich, dass man mit dieser Politik langfristig Wachstum und Beschäftigung schafft. Viel besser wäre es gewesen, den Banken Eigenkapital zu geben. Dann können sie auch wieder Kredite vergeben.“ Peter Brezinschek, Chefökonom der Raiffeisen Bank International

„Wir können nur hoffen, dass damit der Euro unter Druck bleibt und so die Konjunktur belebt.“ Stefan Bruckbauer, Chefökonom der UniCredit Bank Austria

„Der Anleihekauf ist unterm Strich angesichts der sehr niedrigen Inflation in Europa eine gute Idee.“ Michael Spence, Nobelpreisträger 2001

„Die Anleihekäufe haben eine Schwäche. Sie sorgen nicht für Investitionen, geschweige denn für die Innovationen, die nötig sind, um Wohlstand zu erzeugen.“ Edmund Phelps, Nobelpreisträger 2006

„Wenn 20 Prozent der Käufe in gemeinschaftlicher Haftung liegen, bedeutet das, dass die EZB zu 20 Prozent Eurobonds schafft. Es ist bemerkenswert, dass die EZB in aller Deutlichkeit erklärt hat, dass das Programm fiskalische Risiken für die Steuerzahler mit sich bringt. Diese Risiken werden zu einem Teil über die Landesgrenzen umverteilt.“ Hans-Werner Sinn, Präsident Ifo-Institut München

„Die Maßnahmen ändern wenig am schwachen Wachstum in der Eurozone. Sie treiben aber die Preise von Immobilien und Aktien. Das hilft also nicht der Konjunktur, sondern den Finanzministern der hoch verschuldeten Länder.“ Jörg Krämer, Chefvolkswirt der deutschen Commerzbank

„Was der Euroraum wirklich braucht, sind nicht Programme der EZB, sondern Reformen in Wirtschaft und Politik. Nur damit werden wir nachhaltig stärkeres Wachstum erzielen.“ Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank

Mit ihrem heutigen Vorgehen hat die EZB ein Breitband-Antibiotikum gegen die Wachstumsschwäche und das Deflationsrisiko verabreicht. Da Strukturreformen durch Papiergeld aber nicht ersetzt werden, bleibt eine große Portion Skepsis, ob heute ein guter Tag für die Währungsunion war." So reagierte ein Banker auf das riesige Kaufprogramm der EZB im Volumen von 1,14 Billionen Euro. Der KURIER listet auf, welche Heilwirkung, aber auch welche Risiken das teure Medikament birgt.

Plus: Günstige Staatsfinanzierung

Die EZB kauft Banken und anderen Finanzhäusern Papiere, vornehmlich Staatsanleihen, ab. Das wird deren Kurse nach oben und die Renditen nach unten drücken. Tiefe Renditen bedeuten: Geben Staaten neue Anleihen aus, müssen sie weniger Zinsen bieten, um Abnehmer zu finden. Das sollte es den Euroländern erleichtern, ihre Verschuldung abzubauen.

Plus: Luft für Kredite

Verkaufen Banken Papiere an die EZB, wird Geld für die Kreditvergabe frei. Landet wirklich mehr Geld in der Realwirtschaft, kann das die Konjunktur ankurbeln. Das sollte auch dafür sorgen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden und die Arbeitslosigkeit sinkt.

Plus: Billiger Euro

Durch das Monsterprogramm der EZB wird der Eurokurs tief bleiben. Das kann das Exportgeschäft der Unternehmen im Euroraum beflügeln, was wiederum gut für eine Erholung der Wirtschaft ist.

Plus: Vertrauen

Die EZB zeigt, dass sie zu außergewöhnlichen Aktionen bereit ist. Das sollte bei Unternehmen und Konsumenten das Vertrauen in die Zukunft stärken – was gut für Investitionen und Konsum ist.

Minus: Tiefe Zinsen

Nicht nur die Sparzinsen im Euroraum werden noch lange tief bleiben. Auch der Ertrag von Staatsanleihen wird noch mickriger werden. Schlecht für die Sparer, aber auch schlecht etwa für Anleger, die fürs Alter vorsorgen. Versicherungen wird es noch schwerer fallen, gute Erträge für die Pensionsversicherung zu erwirtschaften.

Minus: Machtlos gegen billiges Öl

Mit dem Kaufprogramm will die EZB verhindern, dass die Eurozone in eine Deflation abrutscht. Dass also ein Rückgang der Konsumentenpreise auf breiter Front die gesamte Wirtschaft lähmt. Tatsächlich ist die Mini-Inflation in der Eurozone aber vor allem auf den Verfall des Ölpreises und damit der Energiepreise zurückzuführen. Auch mit Hunderten Milliarden Euro wird die EZB nicht erreichen können, dass der Ölpreis steigt. Dafür wird wohl nur die OPEC mit einer Produktionsdrosselung sorgen können.

Minus: Kapitalnot

Dass die Banken jetzt mehr Kredite vergeben, ist kein Automatismus. Viele Geldinstitute leiden darunter, dass sie zu wenig Eigenkapital haben. Das ist aber nötig, wenn sie mehr Geld verleihen sollen.

Minus: Preisblasen

So gut wie kein Ertrag bei Anleihen wird Kleinanleger wie Großinvestoren dazu verleiten, ihr Geld in anderes umzuleiten, etwa zu Aktien oder Immobilien. Das kann zu gefährlichen Preisblasen führen.

Minus: Weniger Reformdruck

Bei günstiger Staatsfinanzierung könnte in einigen Staaten der Reformeifer nachlassen. Reformen sind aber nötig, damit der Wirtschaftsstandort Eurozone im Wettbewerb nicht abrutscht.

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