Schirrmachers Speichern und Vergessen
Der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zerbricht sich den Kopf über unser aller Gehirne, deren Wahrnehmungsmechanismus und mögliche Digitalisierungsfolgen darauf.
Eine zentrale Rolle in seinem Denkansatz spielt die Speicherfähigkeit und Verlustunfähigkeit des Digitalen. Im Netz bleibt alles erhalten, am Leben und wird Erinnerung. Speicherplatz ist unendlich vorhanden, das digitale Netz durchzieht unser Leben wie Blutbahnen unseren Körper. Die Facebook Timeline wird unser Stammbaum und parallel dazu die Genealogie der Vergesslichen und Denkmüden. Erinnerung wird outgesourct. Denken und Entscheidungen delegiert. An Google beispielweise.
Schirrmacher: "Was, beispielsweise, löst eine SMS im Gehirn aus. Einen Impuls an und aus dem kurzfristigen Belohnungszentrum." Er nimmt sie als Beispiel für die Fülle an hochfrequenten Kurzbotschaften der digitalen Welt, die wie Shots für kurzfristige Glückseligkeit sorgen und einem suchtartigen Stimulus gleichen. Der Mensch will mehr kurze Erfolge in immer weniger Zeit. Schirrmacher: "Im Endeffekt stellt sich unser Gehirn auf diese Kurzzeitigkeit ein und passt die Aufnahmefähigkeit, die Aufmerksamkeit und Wahrnehmungszeiträume an diese Intensität an."
Was das für Medien, Politik, Ausbildung, etc. und deren Inhalte die Komplexität und Konzentrationsfähigkeit erfordern, heißt, können sie sich selbst ausmalen, weist Schirrmacher darauf hin.
Die wertvollste Ressource des Menschen und dessen wichtigste Währung im Wahrnehmungshandel ist die Aufmerksamkeit. Schirrmacher: "Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit ist längst entbrannt und in Gange! Google verteilt Aufmerksamkeit! Das ist das Hauptgeschäft des Such- und Finderiesen. Google entscheidet über seine Algorithmen was in der digitalen Welt existiert und was nicht! So wird mittlerweile Journalismus für Roboter und nicht mehr für Menschen gemacht."
Und welche Opfer bringt der Mensch dafür, fragt der FAZ-Herausgeber: Er vergißt! Der Preis der Digitalisierung sind Konzentrationsstörungen und Burn-out.
Als Beleg hierfür dient ihm die Geschichte und der Mensch während der Industrialisierung. Schirrmacher: "Man glaubte damals Menschen würden durch Maschinen freier, gesünder, wohlhabender. Doch die Menschen wurden krank. Damals hieß die Zeitgeist-Krankheit Fatigue. Erinnert uns das nicht an Burn-out und Depression." Der Fatigue wurde die Veränderung des Menschen entgegengesetzt.
Und wer klagt und anprangert von dem darf auch eine Kontra-Indikation eingefordert werden. Schirrmacher fordert auf "Köpfe zu entrümpeln, empfiehlt Dinge auswendig zu lernen" - es müssen nicht gleich die aus der Schule verhaßten Schiller-Balladen sein - "mit der Hand und einem Stift zu schreiben, weil es die Synapsen-Bildung im Hirn fördert" und er plädiert dafür "alle Formen von Intuition zu stärken und falls notwendig neu zu erlernen". Das geht wirklich, schließt Schirrmacher sein Plädoyer, das nicht zwangsläufig gegen die Digitalisierung gerichtet ist sondern eher gegen die schleichende Selbstaufgabe des Denkens, Erinnerns und Selberfühlens der Menschen.
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