"Ein klassisches Ritual"

"Ein klassisches Ritual"
Medienwissenschaftler Matthias Karmasin zum Parteizugriff auf den ORF und nötige Reformen

KURIER: Die ÖVP sagt, der ORF sei der Politik ausgeliefert und drängt auf Reformen. Wie lautet Ihr Befund dazu?

Matthias Karmasin: Natürlich wurden schon mehrere Anläufe unternommen, um den ORF zu "entpolitisieren". De facto zeigt ja schon die Tatsache, dass es mehrere "Freundeskreise" im Stiftungsrat gibt, dass die vermutete Politikferne nicht ganz gegeben ist. Es könnte natürlich Sinn machen, dass die Vertreter der öffentlichen Hand in einem gebührenfinanzierten Sender repräsentiert sind. Man kann sich allerdings die Frage stellen, ob es in den Händen der Regierung oder jenen des Parlamentes liegt.

Derzeit liegt die Macht in den Händen der Regierung. Der jeweils amtierende Bundeskanzler beschickt das Gros der Stiftungsräte, die ja über den Generaldirektor entscheiden und als wirtschaftliches Aufsichtsorgan fungieren.

Meines Wissens war das damals ein ÖVP-Vorschlag. Das schließt es nicht aus, dass man gescheiter wird, auch in medienpolitischen Dingen. Aber de facto stellt sich ja derzeit die Frage, ob das eine Reform ist, die den ORF in seiner Rolle als unabhängiges Medium stärkt oder ob das eine Reform ist, die im Vorfeld der nächsten anstehenden Bestellung des Generaldirektors konkrete Interessen realisieren soll.

Sprich: Den Druck auf Alexander Wrabetz zu erhöhen, um möglichst viele Wünsche herauszuschlagen.

"Ein klassisches Ritual"
APA10357948-2 - 23112012 - WIEN - ÖSTERREICH: ZU APA-TEXT II - Enquete Verband Österreichischer Zeitungen (VÖZ) "Demokratische Gesellschaften brauchen Medienvielfalt und Pressefreiheit" am Freitag, 23. November 2012, im Palais Epstein in Wien. Im Bild: Matthias Karmasin (Uni Klagenfurt) während der Gesprächsrunde. APA-FOTO: HELMUT FOHRINGER
Die Frage nach dem Generaldirektor und seinem Team ist natürlich wichtig. Letztendlich entscheidend ist aber, ob und wie qualitätsvolle und unabhängige journalistische Arbeit möglich ist. Neben einer soliden wirtschaftlichen Basis.

Sehen Sie die journalistische Unabhängigkeit des ORF derzeit gegeben? Wegen des Solo-Auftritts von Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) bei "Im Zentrum" wurden – siehe ÖVP – massive Zweifel daran angemeldet. Mein Befund wäre, dass im ORF eine relativ hohe journalistische Unabhängigkeit herrscht. Der beste Beleg dafür ist, dass eigentlich alle politischen Akteure im Jahresbogen mit dem ORF unzufrieden sind. Es ist in Österreich ein klassisches Ritual, dass sich immer jemand vom ORF schlecht behandelt fühlt. Zum Faymann-Auftritt: Wenn das was man liest, richtig ist, war es eine Entscheidung von (Chefredakteur Fritz, Anm.) Dittlbacher ohne Intervention und Anweisung von oben. Damit wäre der Faymann-Auftritt paradoxerweise ein Beweis für die Unabhängigkeit der Redaktion.

Derzeit ist die ÖVP erpicht auf eine ORF-Reform. Vor wenigen Jahren wollte die SPÖ eine. Das verlief trotz großer Ankündigung im Sande. Halten Sie Neuerungen eigentlich für notwendig?

Es gibt drei Gründe, wo eine ORF-Reform dringend anzuraten wäre. Die Frage Social Media bzw. inwieweit der öffentlich-rechtliche Rundfunk an den Möglichkeiten der digitalen Medien teilnehmen kann, um an ein jüngeres Publikum heranzukommen. Die Schaffung eines nationalen Schulterschlusses gegenüber internationalen Playern wie Facebook und Google. Und die dritte Frage: In welcher Form man eine Politikferne der Gremien – wie kommt man in den Stiftungsrat? – erreichen kann. Wobei ich mir in Österreich nicht sicher bin, ob man das Ideal einer völligen Loslösung von der Politik schaffen kann.

Vielleicht weil in Bund und Ländern keiner bereit ist, seine Macht im ORF abzugeben?

Ich wüsste nicht, wie man eine Entpolitisierung durchführen könnte, ohne dass jemand dabei ein Stück Macht abgeben müsste.

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