Wenn der Mensch seinen Frust einfach wegfrisst
Was passiert im Körper, wenn man extremen Stresssituationen ausgesetzt ist und warum führt dies bei vielen zum klassischen Frustessen? Diese Frage ist komplex, wie Laura Milojevic, Psychotherapeutin und Ernährungswissenschafterin, erklärt. Konkret läuft bei übermäßigem Essen ein uralter Mechanismus des Menschen ab, der den Körper auf Überlebensmodus schalten lässt, weil eine Gefahr wahrgenommen wurde. "Früher hat das das Überleben des Einzelnen gesichert. Aus einem Zustand der Entspannung wird der Körper durch die Ausschüttung von Hormonen in einen Erregungszustand versetzt, damit dieser für Kampf oder Flucht bereit ist", weiß Milojevic.
Tatsächlich ist es bei akutem Stress so, dass der Appetit erst einmal unterdrückt wird. Das macht durchaus Sinn, bedenkt man, dass Heißhunger in Notlagen nicht unbedingt förderlich fürs Überleben ist. Bei großer Belastung wird auch die Funktion der Verdauungsorgane unterdrückt und das Blut wird im Körper entsprechend umgeleitet, damit der Körper möglichst agil ist.
Heute irrelevant
Was für unsere Vorfahren das Überleben sicherte, ist in unserer heutigen Lebenswelt nicht mehr allzu relevant. "Was bei uns heute das Problem ist, ist nicht der lebensbedrohliche Stress durch natürliche Feinde, sondern großteils die sozialen Stressfaktoren, die zu chronischem Stress und ständiger Aktivierung führen", betont die Expertin. Und dennoch verändern sich bei Stress viele Körperfunktionen – und das kostet Energie. Hier offenbart sich ein weiterer Grund fürs Frustessen, denn durch den Heißhunger auf Hochkalorisches versucht der Organismus die übermäßige Energiezufuhr zu decken: "Unsere Auswahl beim Essen verändert sich also hin zu Fettem, Süßem und Deftigem."
Hinzu kommt, dass hochkalorische Kost, auch als "Comfort Food" bekannt, tatsächlich eine beruhigende Wirkung hat, weil es im Belohnungszentrum zur Freisetzung von Hormonen führt, die auf diese Stressnetzwerke eine dämpfende Wirkung haben. Es kommt zu einer kurzfristigen Linderung - aber nur solange man isst. "Wir Menschen steigen in der Regel immer wieder mit unseren Gedanken in den Stress ein und der Gedanke löst die Reaktion wieder aus. Ein Teufelskreis beginnt." Wesentlich sind auch die Gefühle, die der Einzelne mit Essen und Essenserfahrungen abgespeichert hat. Das hängt oft stark mit Kindheitsprägungen zusammen. Isst man ein bestimmtes Lebensmittel, wird die ganze frühere Erfahrung aktiviert. Wenn man sich also nicht trösten kann, kann das Essen das dann für einen tun.
"Was zur Bewältigung bleibt, ist das Essen"
Was laut Milojevic viel zu wenig berücksichtigt werde sei außerdem, dass man unter Stress weniger schläft, was zu einem gesteigerten Appetit führt. Andere Bewältigungsstrategien wie Sport oder soziale Interaktion fallen ebenso weg: "Das Einzige, was zur Bewältigung bleibt, ist das Essen, das immer verfügbar ist."
Allerdings neigt nicht jeder bei Stress oder anderen unangenehmen Gefühlen zu übermäßigem Essen. Viele hören gar gänzlich auf, Nahrung zu sich zunehmen. Wie ist das erklärbar? "Da gibt es individuelle Unterschiede. Es ist vom aktivierten Gefühl abhängig und welches Essverhalten ich im Normalfall habe", sagt Milojevic, die bei ihren Klienten einen Fokus auf achtsames Essen legt. Bei gezügeltem Essverhalten brauche es viel Kontrolle beim Essen, bei Stress sei die Aufmerksamkeit aber auf den Stressauslöser fixiert. Dann hat man automatisch zu wenig mentale Kapazitäten, um an Kontrolle zu denken. Man isst mehr.
Gelerntes verlernen
Doch wie kann man Stressessen vermeiden oder ihm entgegenwirken? Da es sich bei dem Verhalten um etwas Gelerntes handelt, kann es auch wieder "verlernt" werden – und zwar am besten durch den bewussten Umgang mit Nahrung und Nahrungsaufnahme.
Welche Situationen oder Emotionen sind es, die das Frustessen auslösen? Was brauche ich in solchen Momenten wirklich? Ist es wirklich das Essen, das mir hilft? Mit diesen und ähnlichen Fragen schult Milojevic ihre Klienten darin, Bewusstsein beim Thema Essen an den Tag zu legen und körperlichen Hunger von emotionalem zu unterscheiden. "Ich arbeite selbst viel mit Achtsamkeit, weil es genau darum geht: Zu lernen, ohne Scham oder Kritik, und neugierig zu erforschen, warum man wie reagiert." Mit Übungen wird dann das Gehirn geschult, wodurch Selbstkontrolle und Emotionensregulierung gestärkt werden. Achtsamkeit reduziert auch Stress, also ergibt sich eine Dreifachwirkung.
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