Folgt dem Trauma wieder das Stigma?

Thiago Silva versucht seinen Teamkollegen David Luiz zu trösten.
Der WM-Keeper von 1950 litt sein Leben lang darunter, dass er zum Schuldigen gemacht wurde.

Vor dem Turnier hatte man das WM-Aus Brasiliens gefürchtet, man hatte Randale und Ausschreitungen befürchtet. Nach der historischen Pleite vom Dienstag waren die brasilianischen Fans aber nur geschockt. Fast paralysiert. So kam es in mehreren Städten zu Raufereien. Es gab Festnahmen und Verletzte. In São Paulo und Curitiba war die Situation etwas brenzliger. In Curitiba wurden die Scheiben einiger Busse eingeschlagen, in São Paulo wurde einige Busse gar angezündet.

Die Teamspieler waren geknickt. Die Entschuldigungen setzten sich am Mittwoch fort. "Normalerweise kann ich nach einer Niederlage nicht schlafen. Aber nach diesem Ergebnis, bei einer Weltmeisterschaft, die wir alle gewinnen wollten, kann ich nicht einmal weinen. Der Schmerz ist so stark, so groß, dass ich nicht die Kraft habe, zu weinen", erklärte Thiago Silva. Der Kapitän musste sich wegen einer Gelbsperre das Desaster von der Tribüne aus ansehen.

Teamchef Luiz Felipe Scolari sagte gestern: "Dem brasilianischen Volk möchte ich sagen: Bitte entschuldigt diese Niederlage." In so einem Moment klingt der Name, mit dem er in Brasilien angesprochen wird, wie Hohn. "Felipão", wird er genannt. Doch vom "großen Felipe" ist nicht viel übrig geblieben. Der 65-Jährige, der Brasilien 2002 zum WM-Titel geführt hat, wurde von den Deutschen auf weniger als Mittelmaß gestutzt. Zwölf Jahre nach der bitteren 0:2-Finalniederlage von Yokohama nahmen sie bittere Rache.

Neue Demütigung

"Vielleicht wird es in die Geschichte eingehen, dass ich die schlimmste Niederlage für Brasilien zu verantworten habe", erklärte Scolari. Bis dato ließ sich Brasiliens fußballerische Demütigung mit dem Wort "Maracanãzo" zusammenfassen. Mit der 1:2-Niederlage gegen Uruguay bei der Heim-WM 1950, die Brasilien den Titel gekostet hat. 64 Jahre später ist vom "Mineirãzo" die Rede. Vom 1:7-Debakel im Estádio Mineirão von Belo Horizonte.

Nun fürchten die Spieler das "Barbosa-Stigma". Paulo Moacyr Barbosa Nascimento war 1950 Brasiliens Tormann, der für die Niederlage verantwortlich gemacht worden war. "Am Ende wurden wir durch das Ergebnis stigmatisiert, das für viele Jahre in Erinnerung bleiben wird", sagte Kapitän Thiago Silva.

"Niemand will der neue Barbosa sein", sagte Ex-Weltmeister Márcio Santos, der 1994 in den USA mit der Seleção den Titel holte. Barbosa sagte im Jahr 2000, kurz vor seinem Tod: "In Brasilien sieht das Gesetz 30 Jahre Haft für einen Mord vor. Es ist weit mehr als diese Zeit seit dem Finale von 1950 vergangen, und ich fühle mich noch immer eingekerkert, die Menschen sehen in mir immer noch den Schuldigen für unsere Niederlage." Seine Adoptivtochter Tereza Borba sagte gestern: "Er war ein großer Keeper und Opfer einer Ungerechtigkeit. Er kriegte kein hohes Gehalt, hatte keinen Psychologen, und trotzdem wurde er Vizeweltmeister. Diese Spieler schaffen nicht einmal das."

Alter Meister

Statt 200 Millionen Brasilianern den Traum vom sechsten WM-Titel, dem Hexacampeão, zu erfüllen, wurde der Abend zu einem einzigen Albtraum. Scolari: "Wenn ich zurückblicke auf mein Leben als Fußballspieler, als Trainer und als Sportlehrer, dann war das heute der schlimmste Tag meines Lebens." Und so bleibt Vittorio Pozzo, der Italien 1930 und 1934 trainiert hat, der einzige Teamchef, der mit einer Mannschaft zwei Mal Weltmeister geworden ist.

"Fahr zur Hölle, Felipão", kommentierte das brasilianische Blatt Odia in großen Lettern aus Wut über die Taktik von Nationaltrainer Scolari. Für Scolari ist seine Mission beendet, sein Vertrag endet mit dem Turnier, das für Brasilien am Samstag mit dem Spiel um Platz drei zu Ende geht. Carlos Alberto Parreira, Weltmeister-Trainer von 1994, technischer Direktor des Fußballverbandes und enger Vertrauter von Scolari, glaubt, dass sich dieser nun vermehrt seiner Familie widmen werde. Er wird demnächst erstmals Großvater.

Scolari selbst äußerte sich nicht. "Das Leben geht weiter, auch mein Leben geht weiter", meinte er.

Tränen, Ratlosigkeit und Wut

"Brasilien zahlt den Preis für sieben Todsünden", schreibt die Times in Großbritannien. Der Preis war hoch. Brasiliens desaströses Scheitern hat viele Väter. Warum rutschte die Seleção in die peinlichste Niederlage ihrer WM-Geschichte? Warum haben viele zu viel erwartet vom Rekord-Weltmeister, der für einen anderen Rekord sorgte – die höchste Semifinal-Niederlage der WM-Geschichte?

Die Organisation: Die Deutschen wussten: Spielt man schnell nach vorne, sind die Brasilianer überfordert. So war es – und noch viel dramatischer. Dabei waren die Gastgeber bei fast allen Gegentoren in der Verteidigung in Überzahl, es gab aber keinerlei Ordnung. David Luiz hätte die Chefrolle vom gesperrten Thiago Silva übernehmen sollen, rückte aber ohne Absicherung auf und verlor die Kontrolle. Bayern-Legionär Dante spielte nicht so, als würde er erstmals bei dieser WM spielen, sondern überhaupt das erste Mal in seinem Leben. Er war ein Fremdkörper.

Der Erfolgsdruck: Die Brasilianer wirkten , als hätten sie in der Nacht zuvor die Happy Hours der Bars in Belo Horizonte ausgekostet. Nach dem ersten Gegentor fielen sie dazu in ein 20-minütige Schockstarre. Der extreme Erfolgsdruck hatte natürlich Energie gekostet – körperliche und geistige. Der Titel war kein Traum, sondern ein Muss. Dafür war diese Seleção nicht reif.

Das System: Trainer Luiz Felipe Scolari hielt an den Spielern fest, die beim Confederations-Cup im Vorjahr den Titel geholt haben. Während sich Deutschlands Trainer Joachim Löw bei manchen personellen Maßnahmen sogar dem Druck der Öffentlichkeit beugte, baute Scolari an seinen Stamm, egal, ob die Spieler in Form waren oder nicht. Fred, 2013 noch Torschützenkönig, quälte sich in allen Spielen übers Feld – weil bessere Alternativen fehlen sollen. Aber wenn man keinen Mittelstürmer mit Weltklasseformat hat, warum spielt man dann mit einem Mittelstürmer, wo es auch Spielsysteme ohne diesen Spielertyp gibt?

Die Ausrede: Der verletzte Neymar und der gesperrte Thiago Silva sind zweifelsfrei Klassespieler. Aber wenn eine Auswahl der besten Spieler einer Fußballweltmacht wie Brasilien ein Spiel lang herumrennt wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, kann der Ausfall von zwei Spielern als Erklärung nicht herhalten, das ist viel zu billig.

Die Qualität: Mit Neymar ist Brasilien sicher stärker als beim 1:7, aber auch mit dem Barcelona-Spieler ist diese Seleção die schwächste seit Jahrzehnten – individuell und im Kollektiv. Dass die Außenverteidiger Defensiv-Schwächen haben, ist alles andere als ein Geheimnis. Wenn dann aber auch die zentralen Mittelfeldspieler nicht in die Zweikämpfe kommen, muss dies in einem Chaos münden.

Die Spielweise: Das 1:7 bewies, dass ein brasilianisches Team, das nicht spielen kann wie Brasilianer, nicht versuchen sollte, wie Brasilianer zu spielen. Der Fußball hat sich extrem weiterentwickelt. Elf perfekte Einzelspieler müssen sich dem Team unterordnen, um im Kollektiv perfekt zu funktionieren. Diese Weiterentwicklung wurde verschlafen.

Der Spielverlauf: Jeder Schuss ein Treffer. Das demoralisiert die, die die Tore kassiert haben, und motiviert jene, die die Tore erzielt haben. Die Deutschen hatten schnell erkannt, dass die Brasilianer nach dem 0:1 wie Boxer nach einem Wirkungstreffer in den Seilen hingen. Das nutzten sie aus – ohne Gnade, ohne Mitleid.

Das Spiel in Bildern

Die Niederlage der Brasilianer am Dienstag war durchaus keine Überraschung. Schon im Vorfeld der WM war den Spielern bewusst, dass ihr fußballerisches Niveau diesmal niedriger ist als bei früheren Weltmeisterschaften, wo sie so einen Überschuss an Superstars hatten, dass diese zum Teil auf der Bank sitzen mussten.

Nun hat Coach Scolari aus Sicht des Mentaltrainings einen großen Fehler begangen. Er hat das vorhandene Defizitbewusstsein verleugnet und stattdessen verkündet: "Wir können diese WM gewinnen! Wir MÜSSEN diese WM gewinnen!" Genau mit diesem Druck sind die brasilianischen Spieler aufs Feld gegangen – und waren überfordert. Das hat man bei dem Match deutlich gesehen: In den ersten zehn Minuten haben sie noch über ihre Verhältnisse gespielt und versucht, die Schwächen zu kaschieren. Doch nach dem ersten Tor hat die Abwärtsspirale begonnen. Es war deutlich erkennbar, wie die Mimik der Spieler verfallen ist. Eine sogenannter Sadness-Disadvantage hat eingesetzt: Wenn man schlecht drauf ist, läuft es auch weniger gut. Drama zieht Energie ab. Spätestens nach dem 0:3 konnte man sogar von einer Sadness-Paralyse sprechen. Die Brasilianer haben aufgegeben.

Die Deutschen konnten hingegen vom Gegenteil, nämlich einem Happiness-Advantage, profitieren. Sie waren in einem regelrechten Spiel-Rausch. Nun heißt es für sie allerdings: Vorsicht, dass nach dem Rausch nicht der Kater kommt! Dieser könnte sich beim Finale einstellen. Die Spieler zehren von der idealisierten Erinnerung des Halbfinales. Wenn es nach der ersten halben Stunde im Finale noch 0:0 oder sogar 0:1 für den Gegner steht, könnten sie an ihrer eigenen Leistung zweifeln, und dann kämpfen auch sie mit der Sadness-Disadvantage.

ROMAN BRAUN ist Mentalcoach von Weltmeistern und Weltcupsiegern, Bestseller-Autor und NLP-Master-Trainer. Sein Basisseminar, das NLP Kompakt, zählt zu den bestbesuchten NLP-Einführungsseminaren in Europa. Sein Background: Studium der Psychologie, Philosophie und Pädagogik, sowie Lebens- und Berufserfahrung als Unternehmer. Seine Weiterbildungen absolvierte er u. a. bei Paul Watzlawick, Bert Hellinger, Steve de Shazer, Viktor Frankl, Richard Bandler, John Grinder, Wyatt Woodsmall u.v.m. Aus dem Spitzensport hat Roman Braun u. a. mit Ski-Star Rainer Schönfelder, Box-Weltmeister Sven Ottke und dem österr. Ruder-Nationalteam gearbeitet.

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