Alessandro im Wunderland

Alessandro Michele
Wie der Gucci-Chefdesigner dem strauchelnden Luxuslabel zu ungeahnten Höhenflügen verhalf.

Auf diese Show hatte die Modewelt sehnsüchtig gewartet: Am Mittwoch präsentierte Alessandro Michele in Mailand seine Kollektion für das kommende Frühjahr – und brach dabei einmal mehr sämtliche Regeln. Wie schon in der letzten Saison schickte er Frauen- und Männermodels gleichzeitig über den Laufsteg, ließ Geschlechtergrenzen verschwimmen und zeigte einen fantasievollen Mix aus Achtzigerjahre-Style, gewohnt überdekorierten Oberteilen und verspielten Comic-Motiven. Die 108 Looks – mehr als doppelt so viele wie bei anderen Labels – wurden zu wummernder Elektromusik zwischen antiken Statuen und Mumien vorgeführt. Eine Mega-Show, konstatierten Experten.

Alessandro im Wunderland
A model presents a creation for fashion house Gucci during the Men and Women's Spring/Summer 2018 fashion shows in Milan, on September 20, 2017. / AFP PHOTO / Miguel MEDINA
Alessandro im Wunderland
A model presents a creation for fashion house Gucci during the Men and Women's Spring/Summer 2018 fashion shows in Milan, on September 20, 2017. / AFP PHOTO / Miguel MEDINA
Alessandro im Wunderland
A model presents a creation for fashion house Gucci during the Men and Women's Spring/Summer 2018 fashion shows in Milan, on September 20, 2017. / AFP PHOTO / Miguel MEDINA

Zweieinhalb Jahre ist es her, dass der 45-jährige Römer seine glücklose Vorgängerin Frida Giannini als Kreativdirektor von Gucci abgelöst hat; schon jetzt wird er als lebende Legende, als erfolgreichster Designer des Jahrzehnts tituliert. Die Zahlen bestätigen den Hype: Nachdem das Luxuslabel lange Zeit gekriselt hatte, stieg der Umsatz im ersten Halbjahr 2017 um mehr als 40 Prozent. Gucci ist nun die erfolgreichste Marke der Kering-Gruppe, die Kaliber wie Yves Saint Laurent oder Stella McCartney umfasst. Sogar die von Luxushäusern heiß umkämpften Millennials beißen an: Mehr als 50 Prozent der Gucci-Kunden sind nach 1980 geboren.

Was also macht Michele zum neuen Heilsbringer der Fashionwelt? Die mögliche Erklärung mag paradox klingen: Trends interessieren ihn wenig, er sieht die Geschichte dahinter; in seinem Pressetext zur Mailand-Show bezog sich Michele auf die Philosophen Camus und Heidegger und rief zum Widerstand gegen Konformität und Beschleunigung auf – ziemlich kühn für einen Modedesigner. Sein Motto: Sei einfach du selbst! "Ich möchte alte Modenormen zerstören", zitiert ihn der britische Guardian. Schönheit im klassischen Sinn ist ihm fast schon zuwider – auch bei seinen Models (zu denen in Mailand die Österreichern Stella Lucia zählte): "Wenn jemand zu mir sagt, sie ist schön, sie hat tolle Beine, interessiert mich das nicht. Mich interessiert, wie sie die Welt sieht. Ich will Geschichten erzählen."

Eben weil sich Michele keinem schnellen Trendzyklus unterwirft, seien die Kunden bereit, höhere Preise zu bezahlen, analysiert der Guardian. Oscar-Preisträger Jared Leto fand im Time Magazine, das Michele zu den 100 einflussreichsten Personen des Jahres wählte, eine blumigere Erklärung für den Erfolg seines engen Freundes: "Die Menschen mögen Gucci nicht einfach – sie begehren es", schrieb er in dem Kurzporträt. "Ich denke, das ist, weil sie spüren, dass Alessandro Michele sein ganzes Herzblut in jede Sache fließen lässt, die er macht. Und dass er mit uns eine ebenso flüchtige wie mächtige Zutat teilt – Liebe."

Als ich seine erste Kollektion für Herbst/Winter 2015–16 sah, war ich überrascht, fasziniert, andererseits verunsichert. War das die richtige modische Antwort auf das Chaos in der Welt? Werden diese märchenhaften Outfits ankommen? Vor allem aber auch: Wie würde die nächste Kollektion aussehen? Würde Alessandro Michele – den Namen hatte ich vorher nie gehört – den begonnenen Weg durchhalten, weiterführen können?

Schon die nächste Kollektion zeigte: Die erste war kein blinder Versuch gewesen. Da wusste jemand genau, was er wollte, wohin die Modereise führen sollte. Die dritte überzeugte mich dann völlig.

Hatte Tom Ford einst eine qualitätsvolle, aber verstaubte Marke wieder zum Glitzern, ja zum Glühen gebracht, so fehlte es seiner Nachfolgerin – und ehemaligen Mitarbeiterin, Frida Giannini – am Gespür für die Mode der Zeit, der Zukunft, um den Hype um die Marke zu erhalten. Gucci verstaubte wieder.

Alessandro Micheles Motto trifft offenbar genau den modischen Zahn der Zeit: "Es ist eine Einladung, Du selbst zu sein: die einzig wahre Grenzüberschreitung, die sicherstellt, dem Glück näherzukommen." Seine Kreationen sind wie eine Karte mit Wegweisern, zu lernen, die Welt poetisch zu leben. Als wollten sie sagen: "Stehe zu Deinen Gefühlen und zeige sie." Explodierende Umsätze zeigen, dass er damit völlig richtig liegt.

Alessandro im Wunderland
Brigitte R. Winkler

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