Der Blumenflüsterer
Was tut jemand, der zum Wissenschafter des Jahres gekürt wird? Er freut sich. Hierin war Georg Grabherrs Reaktion völlig normal. Dann aber fragte er: „Seid ihr noch im Vollbesitz eurer geistigen Kräfte?“ Dabei: Gar so abwägig war die Entscheidung des Klub der Wissenschaftsjournalisten nicht, den Ökologen auszuzeichnen. Der Klimawandel ist eines der brisantesten Themen in der Wissenschaft, und Grabherr hat ein einzigartiges Frühwarnsystem für die globale Erwärmung erdacht, entwickelt und weltweit bekannt gemacht. Dazu später.
„Ich nehme das Wilde!“
Überall fließt Grabherrs Wissen über und Leidenschaft für das Lebendige ein. Wenn man ihn fragt, was ihm wichtig ist, sagt er „die Klimawandelforschung und natürlich GLORIA“. Der schöne Frauennamen steht für Global Observation Research Initiative in Alpine Environments. 1987 gestartet, sollte sich GLORIA in den folgenden Jahren zu einem international einmaligen Forschungsvorhaben entwickeln. „Damals überlegte ich: Wie reagiert die Natur im Hochgebirge auf den Klimawandel? Keine teuren Experimente, keine komplizierten Gerätschaften, einfach beobachten, wie die hochalpine Vegetation auf steigende Temperaturen reagiert.“ Das war sein Ausgangspunkt.
„Auf dem linken Fuß“
„Meteorologische Mess-Stationen gibt es seit 1850 auf der ganzen Welt. Wir Ökologen hatten nix!“, beklagt er das Fehlen von Beobachtungen über längere Zeiträumen. „Der Klimawandel hat uns auf dem linken Fuß erwischt.“
Mehr als 20 Jahre und viele hochkarätige Wissenschaftspublikationen später hat sich ein weltweites GLORIA-Netzwerk etabliert: 114 Sites von den Anden über den Kaukasus bis zu den White Mountains in Kalifornien werden von Wien aus koordiniert. Hier werden die Daten gespeichert und ausgewertet. Grabherr: „Die Methoden wurden von uns – den Österreichern, den Kleinen – entwickelt und die Welt tut mit. Heute sind die weltweit führenden Gebirgsforscher mit dabei – aus Australien, Neuseeland, Kalifornien.“
Trotzdem hatte der Gerbirgsforscher Probleme mit der Finanzierung, zuletzt ist die Uni Wien aus dem Vertrag ausgestiegen. „In 50 Jahren werden die Leute froh sein, dass es diese Klimawandel-Zeitreihen gibt. Aber jetzt ist es schwierig. Viele sagen ,Habt ihr den Tourismus beachtet, die Wirtschaft ...‘ Es müsste längst eine gesellschaftliche Diskussion über Natur geben“, sagt er. „Man spricht nur von Landschaft – wie von einer Kulisse. Dass die aus mehreren tausend Lebewesen besteht, wird nie erwähnt. Man darf nicht vergessen, dass wir in lebende Systeme eingreifen.“
Und so soll es vorgekommen sein, dass Grabherr eine Imagekampagne für die Wiese initiierte, um Bauern klar zu machen, dass das bunte Blühen keine Selbstverständlichkeit ist. „Biologie ist heute weit in die Chemie der Lebensprozesse vorgedrungen. Der Blick wird schärfer“, schreibt er in seinem Garten-Buch. Um dann aber fortzusetzen: „Der Mythos Leben verblasst zusehends ...“
In Grabherrs Garten
Der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten kürt seit Jänner 1995 jeweils einen „Wissenschafter des Jahres“ – und zwar immer für das abgelaufene Jahr. Ausgezeichnet werden Forscher für besondere wissenschaftliche Leistung und öffentlichkeitswirksame Darstellung ihres Fachgebietes. Unter den Preisträgern sind der Experimentalphysiker Anton Zeilinger (1996), die Genetikerin Renee Schroeder (2002), der Immunologe Josef Penninger (2003), der Mathematiker Rudolf Taschner (2004), die Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb (2005), der Philosoph Konrad Paul Liessmann (2006), der Verhaltensforscher Kurt Kotrschal (2010) und zuletzt die Archäologin Sabine Ladstätter (2011).
Der Wissenschafter des Jahres 2012, Georg Grabherr, wurde 1946 in Bregenz geboren und ist führender Gebirgsforscher sowie Naturschutzexperte. Grabherr hat in Innsbruck Biologie und Erdwissenschaften studiert. Lehraufträge führten den Botaniker erst an die Universität Innsbruck, später nach England an die University of Wales, schließlich an die Universität Wien, wo er Abteilungsleiter für Naturschutzbiologie, Vegetations- und Landschaftsökologie wurde. Zeitgleich wollten ihn die Universität Hannover und die ETH Zürich. „Aber ich wollte in Wien bleiben“, sagt der Wissenschafter des Jahres und Vater eines erwachsenen Sohnes. 2011 emeritierte Grabherr, der mit seiner Frau Traudl, ebenfalls Botanikerin, im Tullnerfeld lebt.
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