"Ich bin Old Shatterhand"
Ich habe, obwohl ich ein Kind der Siebzigerjahre war, Karl May nicht im Kino kennen gelernt und auch nicht lesend, sondern zuhörend: Mein Großvater las mir seinen Lieblingsautor vor. Mein Großvater war ein sehr gläubiger Mensch und gleichzeitig ein Mensch mit großer Sehnsucht nach Abenteuern, verständlich, denn er war Gemeindesekretär in der Hinterbrühl. Seine wahren Berufswünsche wären gewesen: Indianer oder Bischof.
Indianer oder Bischof
Und beim Lesen von Karl May konnte mein Großvater beides gleichzeitig sein. Beim Zuhören ist mir etwas Faszinierendes aufgefallen: Je länger mein Großvater gelesen hat, desto mehr hat er vergessen, dass er NICHT Old Shatterhand ist. Bald hat er jedes „Ich“ tatsächlich so ausgesprochen, als wäre es sein Ich, und er hat die Geschichten so vorgetragen, als säße er jetzt in diesem Augenblick mit Winnetou am Lagerfeuer.
Karl May ist eine Droge
Das hat durchaus merkwürdige Phänomene hervorgebracht. Zum Beispiel schildert Karl May an mehreren Stellen einen Laufstil, bei dem man jeweils nur ein Bein belastet und das andere ausruht und daher laufen kann, ohne müde zu werden. Dieser Laufstil ist frei erfunden, er ist purer physiologischer Unfug. Mein Großvater war seit einer Erkrankung gehbehindert, aber er hat geschworen, er habe diesen Laufstil vor seiner Krankheit beherrscht.
Das heißt, Karl Mays Fantasie ist eine so starke Droge, dass nicht nur der Autor irgendwann glaubte, er sei wirklich Old Shatterhand, sondern sogar Leser wie mein Großvater.
Sex im Burgtheater
Ich habe dabei viel gelernt über die Kraft der Fantasie.
Karl May kam am 25. Februar 1842, also vor 175 Jahren, auf eine für ihn eher unerfreuliche Welt. (Als er sie am 30. März 1912 wieder verließ, war sie für ihn nach vielen Kämpfen, durchaus eine bessere geworden. Seine letzten Worte waren angeblich „Sieg, großer Sieg, ich sehe alles rosenrot!“).
"Man hielt mich für begabt"
"Ich bin der Sohn blutarmer Webersleute. Man hielt mich für begabt“, schreibt May später über seine Kindheit. Sein Vater zwang ihn, ganze Bücher abzuschreiben, um so seine Bildung zu fördern. Vermutlich entdeckte schon der kleine Karl die Fantasie als Weg, einem unfrohen Dasein zu entkommen.
Nach zwei eher lächerlichen Vorfällen – May hatte im Seminar Kerzen entwendet bzw. die Uhr eines Zimmerkollegen ausgeborgt – rutschte May in eine frühe Karriere als Kleinverbrecher und Trickbetrüger. Auch dabei half ihm die Kraft seiner Fantasie, er nahm sehr überzeugend falsche Identitäten an und führte die Menschen mit erfundenen Geschichten hinters Licht. Unter anderem stahl er einen Kinderwagen und ein Pferd (seine Leser sind vermutlich bis heute dankbar, dass er sich dann als Schriftsteller eher Richtung Pferd orientierte).
Vom Talent zum Star
Nach mehreren längeren Gefängsnisaufenthalten gelang es May dank seines schreiberischen Talents, die Kriminalität hinter sich zu lassen, zunächst als Verfasser von Fortsetzungsromanen in Groschen-Heften. Dabei erwies er sich als enorm flexibel: Für einen Jugend-Verlag schrieb er Geschichten voll (ziemlich brutaler) Action rund um jugendliche Helden. Für katholische Leser durchzog der Protestant May seine Abenteuergeschichten mit behäbiger Bekenntnis- und Bekehrungs-Prosa.
30.000 Apachen & 1500 Sprachen
Gegen Ende seines Lebens war er ein Star, verstrickte sich aber in quälenden Streitigkeiten und Prozessen, unter anderem mit Journalisten, die seinen Hang zur Hochstapelei aufdeckten (so führte er einen Doktortitel, der ihm nicht zustand, und behauptete, er sei tatsächlich Old Shatterhand, Häuptling von 30.000 Apatschen und beherrsche 1.500 Sprachen).
Dabei log er zwar der Form nach, nicht aber gedanklich: Für ihn war das, was er in seiner Fantasie erlebte, mindestens so real wie das, was im echten Leben stattfand.
Das echte Leben war ohnehin mühsam genug. So verlor sich May in einer höchst unübersichtlichen Dreiecksbeziehung mit seiner ersten und seiner zweiten Frau, die wiederum miteinander ein erotisches Verhältnis führten.
Martin Walser über May
Dass May einer der Lieblingsautoren Hitlers war, kann man ihm nicht anlasten. Dass er einerseits von der Gleichwertigkeit aller Völker schrieb und andererseits Schwarze als Tölpel, Chinesen als verschlagen und Juden als geldgierig und gewissenlos darstellte, ist zumindest sehr merkwürdig.
Oder, wie es der Bestsellerautor und bekennende May-Fan Thomas Glavinic ausdrückt: „Jeder wünscht sich Old Shatterhand als großen Bruder.“
Dass er uns dabei anschwindelt, sollten wir May verzeihen. Literatur ist letztlich immer Schwindel, und beide Seiten, Autor wie Leser, genießen diesen Vorgang.
In „Winnetou III“ lässt May, vielleicht in einem Anfall von Selbsterkenntnis, den Westmann Sans-Ear sagen: „Wer sich hinsetzt, um für andere Leute Bücher zu schreiben, der ist verrückt, und ein Verrückter wird nie sein Wort halten.“
So ist es. Und gut ist es so.
Termine: 5. Mai, 24. Mai, 18. Juni
Wenn man etwas sehr gerne hat, was eigentlich als unpassend gilt, dann ist man froh, Gleichgesinnte zu finden. In der Gruppe ist es einfacher, zu seiner peinlichen Leidenschaft zu stehen. Insofern war ich erleichtert, als mir der Kabarettist Thomas Maurer eines Abends gestand, dass auch er Karl-May-Fan ist.
In der Erzählung „Das bin doch ich“ von Thomas Glavinic stieß ich auf das gleiche Geständnis. Und als ich dann auf Twitter las, dass auch Armin Wolf von Karl May nicht loskommt, war mir klar: Wir müssen eine Selbsthilfegruppe gründen. Diese nennt sich „Blutsbrüder“ und hatte Ende Jänner ihren ersten Auftritt im Wiener Rabenhof. Und ja: Wir nehmen weder uns noch Old Shatterhand sehr ernst.
Kommentare