Raich: "Tägliche Turnstunde zu wenig"

Raich: "Tägliche Turnstunde zu wenig"
Interview: Ski-Star Benjamin Raich über Purzelbäume und Facebook, den Druck bei der Heim-WM und sein Leben im Rampenlicht.

Benjamin Raich sitzt auf der Leiner Alm im Pitztal und lässt den Blick über die Berge schweifen. Der Rettenbachferner in Sölden, wo in einem Monat die Weltcup-Saison mit zwei Riesentorläufen startet (27./28.10.) ist Luftlinie keine 30 Kilometer entfernt. "Ich bin ganz ehrlich: Vor dem ersten Rennen kribbelt es bei mir immer noch", gesteht Raich. In diesem Jahr noch mehr, da die Riesentorläufer nach einer Material-Reform erstmals längere und schmälere Skier verwenden müssen. "Aber keiner braucht einen Kummer haben, dass es jetzt optisch nicht mehr spektakulär aussieht", beruhigt Raich.

KURIER: Was hat sich für den Läufer denn verändert?
Benjamin Raich: Es geht jetzt alles ein wenig träger, der Läufer muss deshalb aktiver sein. Trotzdem wird es keine anderen Sieger geben. Es würde mich wundern, wenn ein Ted Ligety oder ein Marcel Hirscher nicht mehr vorne mitfahren. Schade finde ich nur, dass wir im Slalom keine Materialänderung haben. Im Slalom passieren jetzt nicht die ganz schweren Verletzungen, aber viele Läufer haben große Probleme, mit dem Rücken, oder mit dem Knie.

Apropos Knie: Sie haben sich bei der WM 2011 das Kreuzband gerissen und waren erstmals in Ihrer Karriere schwerer verletzt. Hatte diese Verletzung aus heutiger Sicht auch was Gutes?
Es wäre jetzt falsch, wenn ich sagen würde: Ich will das nicht missen. Das wäre kompletter Blödsinn. Was ich aber schon gemacht habe: Ich habe die Verletzung genutzt und das Gute in dieser Situation gesehen.

Das Gute in der Situation?
Ja. Bei mir ist es jahrelang nur Vollgas gegangen. Im Grunde bin ich seit dem Einstieg in den Weltcup pausenlos unter Strom gestanden, körperlich aber auch geistig: Da sollst du sein, dort sollst du sein, gut trainieren sollst du natürlich auch noch, alle wollen was von dir, die Journalisten stellen dir im Ziel ständig die gleichen Fragen – irgendwann nimmt dir das die Luft zum Schnaufen. Die Verletzung war so ein Schnitt, wo ich einmal ein bisschen Luft gekriegt habe und die Zeit hatte, zu reflektieren und den Weltcup von außen zu betrachten.

Wie fällt Ihr Urteil aus?
Es sollte eigentlich das Ziel sein, mehr Events wie Schladming, Wengen, Adelboden oder Kitzbühel zu haben. Dass jetzt nicht den ganzen Winter ein Highlight dem anderen folgen kann, ist mir auch klar, aber man kann sich noch ein wenig mehr bemühen und das besser aufziehen.

Raich: "Tägliche Turnstunde zu wenig"

Bedeutet besser auch mehr Rennen?
Nein, ein Allrounder wie ich hat fast zu wenig Zeit zum Regenerieren. Ich weiß nicht, ob es den Fans taugt, wenn vier Tage hintereinander am gleichen Ort ein Rennen ist. Wenn es nur mehr zack, zack, zack geht, dann geht irgendwann die Freude verloren.

Ein Diskussionspunkt ist seit Jahren die wenig geliebte Super-Kombination.
Das ist wirklich ein Problem, weil keiner weiß, wie lange gibt es den Bewerb noch, wie viele Rennen werden gefahren. So muss die Superkombi ja zwangsläufig zu einem Bewerb verkommen, wo viele nur zum Training mitfahren.

Bei der WM in Schladming findet der Slalom der Superkombi bei Flutlicht statt. Ted Ligety hat kritisiert, dass ausgerechnet der unnötigste Bewerb zur besten Sendezeit stattfindet.
Der redet schon auch viel Blödsinn. Natürlich kann man Kritik üben, sachliche Kritik, aber wie der sich aufführt, würde es mich nicht wundern, wenn er einmal eine Strafe kriegt. Nur dagegen zu schießen, nach dem Motto: Fuck FIS, was soll das? Der zeichnet sich genauso wenig aus wie unser sogenannter Athletenvertreter Kilian Albrecht. Ich kann nur sagen: Für mich spricht er nicht, er hat mich auch noch nie um die Meinung gefragt. Wenn einer für uns Athleten sprechen soll, dann sollte er zumindest einen Vorschlag haben und nicht via Facebook alles nur kritisieren.

Sie haben Facebook angesprochen. Wie stehen Sie eigentlich zu neuen Medien?
Ich nutze Facebook, und ich glaube auch, dass man sich dieser Entwicklung nicht verweigern darf. Ich tu’ aber jetzt nicht jeden Blödsinn rein und trete auch keine großen Diskussionen los. Ich will meine Fans informieren und einen Einblick in mein Leben geben.

Sie führen ja seit Jahren ein Leben in der Öffentlichkeit. Nervt Sie das nie?
Ich kenn’s nicht anders. Nervig wird’s nur dann, wenn Leute respektlos werden und zum Beispiel plötzlich bei mir im Garten stehen. Aber ich will mich nicht beschweren, ich habe mich für dieses Leben entschieden. Ganz bewusst.

Ganz bewusst?
Ja, ich erinnere mich noch genau: 1999 in Schladming, vor meinem ersten Sieg. Wie ich nach dem ersten Lauf mit dem Lift rauf gefahren bin und unten die Massen gesehen habe, da hab’ ich mir
gedacht: "Willst du das überhaupt? Willst du da unten stehen und den Rummel haben? Willst du das wirklich?" Für einen jungen Sportler ist das nicht so ohne, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen. Aber ich wollte das einfach.

Heute bilden Sie mit Marlies Schild ein öffentliches Traumpaar.
Bis zu einem gewissen Maß sind wir da auch selbst schuld. Wir machen gemeinsam Werbespots, aber wir forcieren das nicht. Wir wollen auch nicht unbedingt einen Paarlauf machen, dass wir bei jedem Termin zusammen auftauchen. Und gewisse Fragen werden einfach nicht beantwortet.

Heim-WM

Dann lassen Sie uns das Thema wechseln. Auf Sie wartet in diesem Winter eine Heim-WM. Ist das eine besondere Drucksituation?
Du kannst bei so einem Rennen nichts erzwingen. 2001 bei der WM in St. Anton war ich teilweise übermotiviert. Heute weiß ich: Man muss das fahren, was man kann. Am Limit, und nicht drüber. Das ist die Kunst im Skifahren. Dass man seine eigenen Grenzen kennt.

Aber die Erwartungshaltung in Österreich ist meist schier grenzenlos.
Klar, die Latte ist immer hoch. Es sind halt auch viele Emotionen im Spiel. Aber natürlich ist es übertrieben, wenn man auf einmal der Gott ist und alles super ist, und kaum wird man einmal nur 13., dann zählt das alles nichts mehr. Und eines ist auch klar: Muss-Siege sind die schwersten. Der Roger Federer hätte auch Olympia gewinnen müssen.

Sie haben Olympia angesprochen: Haben Sie die Kritik an Österreichs Sportlern nachvollziehen können?
Dass man darüber redet, ist klar. Mich hat aber extrem gestört, dass die Diskussion schon während der Spiele losgetreten worden ist, wo einige Athleten ihre Bewerbe noch vor sich hatten.

Eine Konsequenz ist die Forderung nach der täglichen Turnstunde.
Ich unterstütze diese Initiative voll und ganz, aber ich glaube, dass die tägliche Turnstunde allein nicht ausreichen wird, dass wir 2024 wieder Olympia-Medaillen holen und erfolgreich sind.

Was meinen Sie konkret?
Wenn Lehrer erzählen, dass Kinder in die Schule kommen und keinen Purzelbaum mehr können, dann ist das bedenklich. Da müssen sich die Eltern schon auch an der Nase nehmen. Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe der Schule ist, die Erziehung der Kinder zu übernehmen, auch nicht die sportliche Erziehung. Da braucht es auch eine Eigeninitiative der Eltern. Man darf es sich nicht so einfach machen. Wenn ich immer nur den einfachen Weg gegangen wäre, hätte ich auch nichts erreicht.

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