Jan Boklöv, der Erfinder des V-Stil

Jan Boklöv, der Erfinder des V-Stil
Der KURIER sprach vor der nordischen WM mit dem Mann, der den V-Stil entwickelte - und nun Hausmann ist.

Man möge ihn doch bitte erst nach 12 Uhr anrufen, hatte Jan Boklöv gemeint. Am Vormittag habe er immer zu tun. Seine Rolle jetzt als Hausmann verlange nämlich ähnlich viel Disziplin wie seinerzeit das Leben als Spitzensportler.

Der Schwede war ein mittelmäßiger Skispringer, der unter epileptischen Anfällen litt und gerne zur Zigarette griff, bevor ihm 1985 der Zufall Flügel verlieh. Ein simpler Skifehler bei einem Trainingssprung ließ Boklöv wie von Zauberhand weiter fliegen, als je zuvor – geboren war der V-Stil.

Der Stil-Bruch brachte Jan Boklöv viel Gegenwind ein, aber auch Trophäen wie den Gesamtweltcupsieg. Heute lebt der 48-Jährige mit seiner Frau, einer EU-Mitarbeiterin, und seinen zwei Söhnen zurückgezogen in Schaerbeek, einem Vorort von Brüssel. Nach seiner Karriere war Boklöv Kindergärtner, nun ist er Hausmann. In seiner Funktion als WM-Botschafter wird Boklöv Falun einen Besuch abstatten, wo am Mittwoch die nordische WM eröffnet wird.

KURIER: Herr Boklöv, wie sehr bestimmt das Skispringen noch Ihr Leben?
Jan Boklöv:
Ganz ehrlich, ich bin da inzwischen extrem weit weg. Im belgischen Fernsehen wird Skispringen nicht übertragen, und Eurosport haben wir bei uns nicht. Das Skispringen ist für mich jetzt irgendwie eine ganz andere Welt.

Der Mann, der das Skispringen revolutioniert hat, hat also keine Ahnung und kein Interesse mehr, was in "seinem Sport" passiert?
Moment, die Namen kenne ich natürlich schon. Und wenn einmal irgendetwas Besonderes passiert, ein schwerer Sturz zum Beispiel oder ein Weltrekord im Skifliegen, dann rufen mich alte Freunde an. Das letzte Mal, dass ich live bei einem Skispringen dabei war, ist aber schon zwei Jahre her.

Werden Sie dort denn überhaupt erkannt?
Ich bin jetzt keiner, der irgendwo hinkommt und schreit: ‚Hurra, ich bin da!‘ Im Mittelpunkt stehen, das ist sowieso nicht meins. Die Springer von heute können mit meinem Gesicht nichts anfangen. Woher auch? Es sind aber einige Trainer dabei, die mich noch kennen, und die erzählen dann ihren Leuten, was das für ein Typ ist. Und dass ich es war, der den V-Stil erfunden hat.

Wann und wie haben Sie denn bemerkt, dass Sie weiter und besser springen, wenn die Ski ein V formen?
Dass ich mit dem V-Stil um zwanzig Meter weiter springe, das habe ich schon nach zwei, drei Versuchen gesehen. Aber es hat ewig gedauert, bis ich nachvollziehen konnte, was da wirklich passiert. Ich bin ja ganz allein dagestanden. Kein Trainer hat mir erklären können, warum ich jetzt um so viel weiter springe, nur weil ich ein V mache. Alle haben sich gewundert. Ich habe mich jahrelang gefragt: Warum? Warum ist das so? Aber ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass ich das Richtige mache.

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Anton Innauer ist gerade ein junger Nachwuchscoach im Skigymnasium in Stams, als er von der Sache Wind bekommt. "Wie ich Boklöv das erste Mal springen gesehen habe, war ich richtig erschrocken", sagt der Vorarlberger Olympiasieger. Doch dieser komische Kauz aus Schweden sollte schnell die Neugier von Innauer wecken, der in Stams bereits früh mit seinen Jungadlern Pilotversuche mit dem V-Stil unternimmt. "Mich hat es extrem fasziniert, dass das fliegt."
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Herr Boklöv, Sie müssen doch sehr stolz sein, dass Ihnen alle nachgeeifert haben und heute nur mehr mit dem V gesprungen wird.
Warum soll ich stolz sein? Ich weiß: Viele sagen, ich hätte das Skispringen verändert. Aber die Wahrheit ist: Ich habe das in erster Linie für mich getan, und nicht, damit alle Welt so springt wie ich. Aber wissen Sie, worauf ich wirklich stolz bin?

Worauf denn?
Ich bin stolz darauf, dass ich das durchgezogen habe und diesen Weg gegangen bin. Man hat mir ja damals gesagt: "Was willst du damit? So springt ja kein Mensch. Das wird nie funktionieren." Und der FIS hat es am Anfang auch nicht gepasst. Die Wertungsrichter haben mir immer Punkte abgezogen. Sogar wenn ich einen Telemark gemacht habe, haben sie mir nur 14,5 Punkte gegeben. Dass ich da durchgehalten habe, das macht mich heute noch stolz. Und irgendwann habe ich dann 17,5 Punkte für meine Sprünge bekommen, den Gesamtweltcup gewonnen – und dann haben alle gesehen, dass der V-Stil nicht mehr aufzuhalten sein wird.

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Im Sommer 1991 beschließt der Internationale Skiverband, Springer, die den V-Stil verwenden, nicht mehr mit Punktabzügen zu bestrafen. "Ich hab’ dagegen protestiert, so was in einer Olympiasaison zu machen", erinnert sich Anton Innauer, der die Nationalmannschaft betreut. Für Innauer gibt es nur eine Lösung. "Wir müssen alle sofort die Technik umstellen." Innerhalb weniger Wochen unterziehen sich routinierte Skispringer wie Ernst Vettori oder Andreas Felder, die ihr Lebtag lang nur die Paralleltechnik gesprungen waren, einem V-Stil-Crash-Kurs – Überraschenderweise ohne Crash. "Mich hat’s nie geschmissen", erzählt Vettori.
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Herr Boklöv, sind Sie denn enttäuscht, dass der V-Stil nicht nach Ihnen benannt ist?
Natürlich könnte er auch meinen Namen tragen. So wie im Hochspringen der Flop etwa auch nach Fosbury benannt worden ist. Es ist ja nicht so, dass ich irgendwelche Hilfsmittel gehabt hätte. Ich hatte keine anderen Skier, ich hatte keinen anderen Anzug, was ich hatte, war halt eine andere Technik. Aber eigentlich ist es egal, es ist inzwischen für alle der V-Stil. Schluss.

Apropos Schluss. So plötzlich wie Sie aufgetaucht sind, waren Sie auch wieder verschwunden. Warum haben Sie Ihre Karriere wenige Wochen vor der Heim-WM 1993 in Falun beendet?
Das war eine schmerzhafte Erfahrung, weil Skispringen mein Leben war. Aber meine Füße wollten nicht mehr. Und irgendwann auch nicht mehr mein Kopf. Inzwischen hatten ja alle auf den V-Stil umgestellt. Und irgendwie um den 15. Platz springen, das wollte ich dann auch nicht.

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Die Revolution, die er selbst ausgelöst hatte, hatte Jan Boklöv da bereits besiegt. Schon ein Jahr zuvor sprang Ernst Vettori in Albertville im V-Stil zu Olympiagold, insgesamt holten die österreichischen Adler, die dank Innauers Weitblick als einzige Mannschaft komplett auf die neue Technik umgestellt hatten, fünf Medaillen. Pionier Jan Boklöv, der abgeschlagen auf Rang 47 landete, schickte damals eine Sektflasche ins Quartier der Österreicher. Samt Widmung: Gratulation vom Vater des V-Stils.
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Jan Boklöv (geboren am 14. April 1966 in Malmberget/SWE) gewann in seiner Karriere fünf Weltcupspringen und in der Saison 1988/’89 auch den Gesamtweltcup. Je mehr Skispringer auf den V-Stil umstellten, desto mehr verlor er auch seine Vormachtstellung: Bei den Olympischen Spielen 1992 wurde er nur 47. Vor der Heim-WM 1993 in Falun beendete er seine Karriere. Heute lebt er in Brüssel.

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