Ruanda dreht sportlich am großen Rad

Radsport ist eine von Ruandas größten Hoffnungen.
Zu Besuch in Ruanda, einem Land, dem der Sport hilft, seine dunkle Geschichte aufzuarbeiten.

Über den Lenker gebeugt und aus der Perspektive des Fahrradsattels sind die Sinne doppelt geschärft für die Schönheit dieser Landschaft. Avocados, Bananen, Zuckerrohr, Schafe. Im steten Auf und Ab schlängelt sich die Straße durch die Hochebenen im Norden Ruandas, dem Land der tausend Hügel. Vorbei an den mächtigen Virunga Vulkanen, an deren Hängen in den Regenwäldern die letzten Berggorillas eine Heimat haben. Immer wieder entladen sich die Wolken mit kurzen, heftigen Monsunschauern. Die Temperaturen sind trotz der Nähe zum Äquator angenehm mild.

Liebling Rafiki

Die Straße lebt. Frauen tragen ihre Babys am Rücken, das Gepäck auf dem Kopf. Kinder laufen mit breitem Lächeln neben uns her. "Good morning, Sir!" Und Fahrräder, viele Fahrräder, die wichtigsten Transport- und Fortbewegungsmittel in Ruanda. Junge Burschen, auf Rädern ohne Schaltung, transportieren scheinbar mühelos bis zu 100 Kilo schwere Lasten, stürzen sich halsbrecherisch, einen Fuß immer bremsbereit am Boden, in die endlosen Abfahrten.

Ruanda dreht sportlich am großen Rad
Radreportage
Und immer wieder die Sprechchöre, in jedem Dorf. "Rafiki! Rafiki!" Kein Zweifel, Rafiki Uwimana, unser Guide, ist ein Star. Dunkle Brille, Kinnbart, Dreadlocks unterm Helm. Rafiki gehört zur ersten Generation des Team Rwanda, ist bekannt im ganzen Land, die Geburt seiner Tochter wird im Radio verkündet. "Das Fahrrad ist zum wichtigsten Begleiter in meinem Leben geworden." Seine Zeit als Profi ist vorbei, doch Rafiki arbeitet weiter im Team, als Guide und Mechaniker. Und blickt immer wieder zurück auf seine schreckliche Geschichte, die auch die Geschichte Ruandas ist.

Dunkles Kapitel

Als 1994 in Ruanda der Massenmord tobt und die Macheten der Todesschwadronen die Straßen mit dem Blut Hunderttausender Tutsi und gemäßigter Hutu tränken, beschließen Rafikis Eltern, die Familie aufzuteilen, sie an mehreren Orten unterzubringen, zwecks größerer Überlebenschancen. Rafiki, erst fünf Jahre alt, wird von der Hauptstadt Kigali in ein kleines Dorf im Osten des Landes zur Oma geschickt. Es dauert fünf Jahre, bis die Familie wieder vereint ist.

Hoffnung Radcenter

"Wir fühlen uns als Amerikaner mitschuldig an dem schrecklichen Morden. Die Clinton-Administration hat eine militärische Intervention unterlassen, die internationale Gemeinschaft ihre Blauhelmsoldaten inmitten der Gewalt abgezogen. Mit unserem Engagement im Radsport wollen wir einen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes leisten".

Kimberly Coats ist Amerikanerin. Sie nippt an ihrem Tee, "Wonder Woman" prangt in weißen Lettern auf der blauen Tasse. Stolz schweift ihr Blick über das eingezäunte Gelände, mit seinen Palmen, dem gepflegten Rasen und den schmucken Ziegelhäuschen, hier in Musanze im Norden Ruandas, auf 2.000 Metern Höhe.

Die sechzehn Gebäude hat die Strabag errichtet, für ihre Arbeiter und Techniker, als das Unternehmen in der Region eine Straße gebaut hat. Seit Juni 2014 hat Ruandas kleines Radwunder hier nun eine Heimat gefunden. Der Name ist Programm und Mission zugleich: "Africa Rising Cycling Center".

Coats ist die große Kümmerin. Macht das Marketing, organisiert die Abläufe, die Reisen und sammelt Spendengelder. Ein Großteil kommt von Unternehmern aus den USA. Die Mitschuld. "Für das ganze Land sind das Team Rwanda und das Center ein Symbol der Hoffnung, und deren Fahrer wichtige Botschafter. Sie erzählen der Welt eine neue Geschichte des Landes und des Kontinents, eine Geschichte des Aufbruchs und der Zukunft durch den Radsport".

Rund 100 Dollar verdienen die jungen Fahrer im Monat, mehr als der Durchschnitt in Ruanda. Können sich und ihre Familien damit selbst versorgen, bekommen eine Perspektive, mit strukturierten Abläufen: Yoga am Morgen, dann Frühstück, Unterricht, dann Training.

Reif für Hollywood

Sportlich liegt alles in den Händen ihres Mannes Jonathan "Jock" Boyer. Boyer ist der erste US-Radprofi in Europa. 1981 startet er zum ersten Mal bei der Tour de France, fünf Teilnahmen folgen, Platz zwölf ist sein größter Erfolg. 2006 kommt er nach Ruanda, erkennt das große sportliche Potenzial der jungen Fahrer, erkennt für sich eine neue Lebensaufgabe, bleibt und gründet das Team Rwanda Cycling. Der britische Filmemacher Forest Whitaker packte diese sportlich bewegende Geschichte in die preisgekrönte Dokumentation "Rising from Ashes". Und jetzt klopft auch noch Hollywood an: Leonardo di Caprio plant das Leben von Boyer und dem Team Rwanda zu verfilmen.

Ruanda dreht sportlich am großen Rad
Radreportage
Mit dem Africa Rising Cycling Center will er den afrikanischen Radsport nach oben bringen. "Hier trainieren auch die Teams von Äthiopien und Eritrea. Wir wollen möglichst viele Fahrer bei europäischen Teams unterbringen und als erste Mannschaft nur mit schwarzafrikanischen Sportlern an der Tour de France teilnehmen".

Afrika und Radsport, das ist neu. Seit Jahrzehnten dominieren die Läufer die Leichtathletik, begeistern afrikanische Fußballer in Europas Stadien. Und jetzt kommt der Radsport. Im Vorjahr eroberte Daniel Teklehaimont aus Eritrea bei der Tour de France als erster Afrikaner das gepunktete Trikot des Bergbesten und setzte damit einen Meilenstein für den afrikanischen Radsport.

Sportlicher Ehrgeiz

Szenenwechsel. Kigali, Hauptstadt, Stade Amahoro. Ein Mehrzweckstadion für 30.000 Zuschauer. Während des Völkermordes 1994 errichteten die Vereinten Nationen hier eine Sicherheitszone für mehr als 10.000 Flüchtlinge, die Schutz suchten vor den Kugeln, Äxten und Macheten. Heute rollt auf dem Rasen wieder der Fußball, auf den Tartanbahnen sprinten die Leichtathleten, Konzerte finden statt. Und in den Büroräumlichkeiten wird Politik gemacht.

Im Ministerium für Sport und Kultur sitzt mit Julienne Uwacu (37) erstmals eine Frau an der Spitze. In Anbetracht des mit 64 Prozent weltweit höchsten parlamentarischen Frauenanteils nur logisch und konsequent. "Der Sport spielt für Ruanda eine symbolträchtige Rolle. Er stärkt unseren Stolz, die Einigkeit des Landes, das Miteinander der Bevölkerungsgruppen und lässt uns andere Geschichten erzählen, abseits des Genozids. Denken wir nur an die Teilnahme Ruandas an der U-17-Fußball-WM oder an Adrien Niyonshuti, der sich für die Olympischen Spiele 2012 qualifizieren konnte und als erster Afrikaner den Cross-Country Bewerb beendet hat. Mit dem Team Rwanda können wir erneut eine sehr schöne menschliche und sportliche Erfolgsstory erzählen".

Enormer Aufschwung

Auch wenn der Fußball nach wie vor der beliebteste Sport im Land ist, sind alle stolz auf ihre Radfahrer, die das neue Ruanda mit Selbstbewusstsein auf ihren Rennmaschinen in die Welt hinaustragen. Selbstbewusst sind auch Uwacu’s Pläne für die Zukunft: "Wir streben eine breite Sportkompetenz an, mit bestmöglichen Leistungen, einer engagierten Talentförderung und möchten auch alle Mädchen, Frauen und Menschen mit Behinderung für Sport begeistern".

In keinem anderen afrikanischen Land soll der Anteil der Sport treibenden Bevölkerung in Zukunft höher sein. Im Fußball will man Top Ten in Afrika werden, im Radsport, Basketball, Volleyball, Leichtathletik und bei den Paralympics strebt das Land einen Platz auf dem Podium an. Rund 10 Millionen Euro pro Jahr stehen der Frau Minister für die ehrgeizigen Pläne zur Verfügung. Neben öffentlichen Geldern setzt das Land auch auf private Investitionen aus dem Ausland. Und auf Umuganda, das an der Basis helfen soll und bei der Förderung von Talenten.

Gelebte Gemeinschaft

Umuganda, das ist gelebte Solidarität made in Ruanda. An jedem letzten Wochenende des Monats müssen alle berufstätigen Ruander gemeinnützige Arbeiten verrichten: Müll aufsammeln, Bäume pflanzen oder eine Schule bauen. Alles für die Gemeinschaft. Wer nicht mitmacht, muss eine empfindliche Strafe zahlen. Für die Regierung eine monatlich wiederkehrende Chance, die Bevölkerung zu versammeln und wichtige Themen zu diskutieren. Vielleicht ist es auch dieses Umuganda, das Ruanda mit seinem beeindruckenden Aufschwung zu einem Vorzeigestaat in Afrika werden lässt: Mit einer allgemeinen Krankenversicherung, die für Arme kostenlos ist. Mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von acht Prozent und einer geringen Arbeitslosenquote. Mit der progressivsten Umweltpolitik des Landes. Und mit einer großen Bildungsoffensive, die rund 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Schule besuchen lässt.

Africa rising!

Thomas Pupp, Autor der Reportage, ist Manager des Tyrol Cycling Teams und sitzt für die SPÖ in Tirols Landtag.

Kommentare