Die Formel 1 irgendwo im Nirgendwo
Die
Formel 1 ist in Indien angekommen. Unmittelbar nach der Passkontrolle auf dem Flughafen in New Delhi steht Lewis Hamilton. In Originalgröße, allerdings aus Karton, posiert er vor seinem McLaren aus dem Jahr 2009. Im indischen Sportfernsehen gibt Ferrari-Pilot Felipe Massa ein langes Interview und die Times of India, die größte englischsprachige Zeitung des 1,2-Milliarden-Einwohner-Landes, hat den halben Sportteil dem ersten Formel-1-Rennen in Indien gewidmet (Sonntag, 10.30 Uhr/live ORFeins, RTL, Sky).
Die Stadt hat sich herausgeputzt, die Menschen beglückwünschen einander. Blumen und Lichterketten schmücken die Häuser, Kerzen stehen in den Fenstern, Blüten sind auf dem Boden drapiert. Es wird gefeiert, in der Nacht leuchtet ein Feuerwerk über New Delhi, Böller knallen.
Und das alles wegen eines Autorennens?
Mitnichten. Es ist Diwali, das Lichterfest. Ein Feiertag, vergleichbar mit Weihnachten und dem Neujahrstag. Das Formel-1-Rennen, das eine neue sportliche Ära einläuten soll, wird von den meisten Indern kaum zur Kenntnis genommen. Geplaudert wird vielmehr über den jüngsten Cricket-Triumph über England in Kalkutta - und natürlich über Diwali.
Happy Diwali, Sir!"
Unbekannt
Nur ein Motor-Rikscha-Fahrer ohne Vorderzähne gibt vor, zu wissen, wo sich die neue Rennstrecke befindet, der Buddh International Circuit. "Hundred Rupees, Sir!", sagt er, startet das Dreirad und fährt los. Als er nach mehrmaligem Nachfragen bei Passanten tatsächlich erfährt, wo der Formel-1-Kurs liegt, versucht er (mit Erfolg) den ausgehandelten Preis zu verdoppeln. Kein Drama, 200 Rupien entsprechen 2,90 Euro.
Die Strecke ist vom Zentrum New Delhis etwa so weit entfernt wie St. Pölten von Wien - mit dem Unterschied, dass wir nicht mit 130 über die Autobahn brettern, sondern mit 20 durch's Stadtgebiet knattern. Bleibt Zeit, eine Vielfalt an Eindrücken aufzusaugen.
Die Menschen wuseln teilweise so eng aneinandergedrängt, dass man kaum den Boden sieht. Der Verkehr verläuft im Chaos zwischen zerknitterten Kleinwagen, Motor-Rikschas, Bussen und Ochsenkarren. Der zahnlose Fahrer betätigt mit der einen Hand die Kupplung, mit der anderen die Hupe. Ständig. Alle anderen Verkehrsteilnehmer - außer den Ochsenkarren-Fahrern - tun es ihm gleich, was zu einem gewaltigen Lärmpegel führt.
Trotzdem breiten Händler ihre Ware mitten auf der Straße auf, dazwischen trotten Kühe, daneben verrichtet ein kleines Mädchen hockend sein Geschäft. An jeder Kreuzung bitten einige der 58.000 Bettler der Stadt um Almosen. Jährlich sterben in
Indien mehr als 100.000 Menschen bei Verkehrsunfällen. In Österreich waren es im Vorjahr 552.
Umwerfend
Delhi belebt die Sinne, aber es schmeichelt ihnen nicht. Stechender Brandgeruch und warme Tierausdünstungen, sanftes Räucherstäbchen-Aroma und beißender Uringeruch, Schweiß und Scheiße. Im Rinnsal steht eine Drecksbrühe. Allein durch den Anblick klopft die Hepatitis an die Leber. Was für ein Gegensatz zur antiseptischen Glitzerwelt der Formel 1.
Doch irgendwann auf der zweistündigen Fahrt zur Rennstrecke ändert sich das Bild. Plötzlich ist der Asphalt glatt und neu, frisch gestrichene Zäune hindern die Kühe daran, über die sechsspurige Straße zu gehen. Wir gleiten dahin auf dem Yamuna Expressway, benannt nach einem verstunkenen Fluss, der daneben fließt. Bis nach Agra führt die Autobahn, zum Taj Mahal, dem Top-Ziel für Touristen. Erbaut wurde die Straße von Jaypee, einem riesigen Baukonzern. Die Firma baut viel, sehr viel: Staudämme, Häuser, Straßen, sogar ganze Stadtteile - und einen Formel-1-Kurs um umgerechnet knapp 300 Millionen Euro. In China, Abu Dhabi oder Singapur werden die Rennstrecken vom Staat finanziert, die Anlage in Indien ist ein privates Projekt.
Die Ambitionen in dem Land mit dem jährlichen Wirtschaftswachstum von acht Prozent sind groß: In naher Zukunft soll um die Rennstrecke eine Stadt entstehen, mit einem Cricket-Stadion für 100.000 Zuschauer und anderen Sportanlagen. Bereits jetzt wächst Delhi in sein Umland, Kräne und Skelette von Hochhäusern stehen in der menschenleeren Ebene.
Umgesiedelt
Die Bauern, denen das Land gehört hatte, wurden enteignet. Entschädigt wurden sie mit einem festgesetzten Betrag, egal, ob es ihnen recht war oder nicht. Doch das Wohlbefinden einiger weniger Bauern zählt nicht viel für einen Megakonzern, und es hat auch keinen Platz im Weltbild eines Bernie Ecclestone.
Hier ist nur wichtig, dass alles exakt nach Zeitplan funktioniert. Dass nicht wieder der Strom ausfällt, wie gestern geschehen, und die TV-Kommentatoren dadurch in ihren zellenähnlichen Kobeln im Finstern sitzen; dass möglichst bald Reifenabrieb auf die Strecke kommt, um sie griffiger zu machen; und dass die Arbeiter ihre Werkzeuge endlich zur Seite legen und Platz machen. Für die Hunderten Journalisten, für die Tausenden Fans und für die 24 Rennfahrer. Für den echten
Lewis Hamilton und seinen 2011er-McLaren.
Denn die Formel 1 ist in Indien angekommen.
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