Sammer: "Koller, eine kluge Wahl"

Sammer: "Koller, eine kluge Wahl"
Matthias Sammer war ein Kicker von Weltformat, heute ist er Sportdirektor von EM-Favorit Deutschland.

Im Fußball geht alles schnell. Auch Interviews können in Windeseile zustande kommen. "Pack’ die Sachen zusammen und komm’!" Schon sitzt man auf dem Rücksitz eines Autos neben Matthias Sammer und begleitet ihn vom Hanappi-Stadion, wo er für adidas und Sport 2000 einen PR-Termin wahrgenommen hat, zum Flughafen. 40 Minuten, in denen der DFB-Sportdirektor einem nicht entwischen kann. "Guten Tag, wir können beginnen, wenn Sie wollen." Na, dann ...

KURIER: Sie haben das deutsche Team vor Ort gesehen. Zufrieden mit dem bisherigen Auftreten?
Matthias Sammer: Wir haben sechs Punkte, dennoch ist nicht alles gut. Aber mir gefällt das Auftreten der Mannschaft. Sie wirkt fokussiert. Für Euphorie gibt es keinen Grund, außerdem bin ich kein Freund der Schwarz-Weiß-Betrachtung. Die Mixtur zwischen schönem Spiel und Effizienz ist erkennbar.

Gibt’s schon Erkenntnisse aus der EM?
Dafür ist es zu früh. Die meisten Teams spielen ein ähnliches System, bis auf Italien, das plötzlich auf einen halben Libero in der Abwehr zurückgegriffen hat.

Sie haben einst den Libero modern interpretiert. Tut es Ihnen leid, dass es diese Position im heutigen Fußball nicht mehr gibt?
Nein, überhaupt nicht. Weil ich persönlich nie der Meinung war, dass Dinge, die zum jeweiligen Zeitpunkt richtig waren, automatisch auch in Zukunft richtig sein müssen. Bei mentalen Eigenschaften glaube ich wiederum, dass es traditionelle Werte geben muss.

War das Abgehen vom Libero der Schritt zum modernen Fußball?
Es war für den ball- und raumorientierten Fußball sicher das Beste. Aber natürlich wird es immer wieder Situationen geben, in denen sich Spielsysteme neutralisieren. Dann benötigt man wieder intelligentere Lösungen. Auch das System mit Libero hatte Vorteile.

Sie wurden 1996 Europameister. Was waren die größten Veränderungen im Fußball bis heute?
Die Geschwindigkeit des Spiels, dadurch auch das System. Und damit auch die Bestandteile, dass man in der Technik weniger Zeit zur Verfügung hat.

Sind Fußballer heute fitter als jene von früher?
Sie laufen aufgrund der trainingstechnischen Erkenntnisse mehr, von der Dauer und der Geschwindigkeit. Nur macht ein Vergleich keinen Sinn, denn früher war man vermeintlich ebenfalls auf höchstem Niveau.

Sie kennen den Fußball aus verschiedenen Perspektiven. Wo liegen die Reize?
Alles zu seiner Zeit ist für mich wunderbar gewesen. Ich war sehr gern Spieler, dann Trainer und bin jetzt gern Sportdirektor. Entscheidend ist, dass man sich in den jeweiligen Positionen verbessern und dazulernen will. Ich war in jeder Situation glücklich.

Als Spieler lebt man aber doch unbeschwert.
Natürlich. Vor allem zu Beginn einer Karriere. Da ist man für seinen eigenen Weg zuständig. Das ist eine persönliche Denkweise. Erst später kommt die Verantwortung, dann wird es komplexer für einen Spieler. Wobei immer noch der Trainer die Verantwortung trägt. Trainer und Sportdirektor – diese Bereiche sind viel komplexer.

Brauchen Sie diese Verantwortung?
Für mein persönliches Glück brauche ich vor allem eine Lebensaufgabe. Das betrifft Familie wie den Beruf. Wolfgang Schäuble hat mal gesagt: "Ich bin ich. Wenn die Leute mich mögen, dann freut mich das. Wenn sie mich nicht mögen, dann verstehe ich das." Ich muss nicht unbedingt eine Rolle spielen für meine Zufriedenheit.

Ist für Sie das Trainergeschäft noch ein Thema?
Nein, es ist ad acta gelegt. Ich bin aber 44 Jahre alt, ich habe hoffentlich noch viel Zeit. Ich weiß nicht, was kommt. Aus heutiger Sicht kann ich es ausschließen. Mir gefällt meine Arbeit.

Sie sind auch Experte im Fernsehen. Wie sehen Sie das Wechselspiel zwischen dem Fußball und den Medien?
Die mediale Begleitung betrachte ich als einen wesentlichen Bestandteil für die Popularität des Fußballs. Aber überall, wo Segen ist, ist auch Fluch. Das Anpassen an Systeme führt aber nicht unbedingt zu Entwicklungen. Daher sehe ich viele Punkte etwas kritischer. Man will vieles euphorisieren, es geht um Einschaltquoten, Auflage, es geht um Extreme. Deshalb fällt es mir nicht schwer, Extreme dann auch mal mit einer gewissen Weichheit oder auch Deutlichkeit aufzubrechen. Daher bin ich gerne Experte im Fernsehen.

Nach Ihrem Antritt beim DFB mussten Sie Strukturen ändern. Wie viele Windmühlen galt es zu bekämpfen?
Alle Veränderungen, die wir getätigt haben, waren von einer Schwierigkeit verfolgt. Weil du auch den vorhandenen Leuten vermittelst: Wären sie gut, wären sie uns schon früher eingefallen. Daher mussten wir ruhige und sachliche Überzeugungsarbeit leisten.

Wollten Sie einmal alles hinschmeißen?
Zu Beginn gab es schon Diskussionen, die den Start nicht einfach machten. Geärgert hat mich ein gewisser Stillstand 2009 nach einem Titel im Nachwuchs. Zu der Zeit kam auch noch das Angebot des HSV für mich persönlich. Aber hinschmeißen wollte ich nicht.

Welche Veränderungen stehen im deutschen Fußball künftig an?
Die Strukturen stehen prinzipiell, aber an den Details muss man immer wieder schrauben und sie den Gegebenheiten anpassen. Wir bauchen mehr hauptamtliche Trainer im Nachwuchs, noch mehr Professionalität in diesem Bereich.

War die schlechte EM 2000 der Anstoß zum Umdenken im deutschen Fußball?
Jede Niederlage kann produktiv sein, wenn ich das Richtige daraus nehme. Diese EM war sicher ein Anstoß, Maßnahmen einzuleiten. Das ist keine Mär.

Deutschland spielt seit Jahren schönen Fußball. Muss endlich ein Titel her?
Wenn ich nur nach der Optik gehe, dann ist das ein anderer Anspruch. Unserer ist ein anderer. Wenn es möglich ist, spielen wir gern den attraktivsten Fußball. Aber wenn es nötig ist, dann müssen wir auch effizient agieren können. Und solange das nicht mit einem Titel gelingt, sind wir nicht komplett.

Früher spielte Deutschland wenig attraktiv, aber erfolgreich. Jetzt ist es beinahe umgekehrt. Verärgert Sie das?
Wir müssen uns nicht für attraktives Spiel genieren. Aber wir dürfen ruhig unsere ureigenen Tugenden in unserem Spiel wieder finden. Aber ganz ehrlich: 1996 haben wir den Titel geholt mit Spielern wie Häßler, Möller, Klinsmann. Das waren doch alles tolle Fußballer.

Wie sehr verfolgen Sie den österreichischen Fußball?
Mit dem Nachwuchs bin ich meistens direkt konfrontiert, mit Willi Ruttensteiner und Leo Windtner besteht immer wieder Kontakt. Die Liga kenne ich zu wenig, um sie sachlich und seriös analysieren zu können.

Und das Nationalteam?
Mit Marcel Koller hat Österreich eine kluge Wahl getroffen. Er hat in Deutschland einen guten Ruf. Es gefällt mir, was da passiert. Ihr habt eine gute Qualität mit guten Legionären. Der nächste Schritt wäre die Stärkung der eigenen Liga.

Darf Österreich den Anspruch erheben, sich für ein großes Turnier zu qualifizieren?
Anspruch hat immer etwas mit Realität zu tun. Aktuell habe ich das Team zu wenig gesehen. Ich weiß derzeit nicht, was für euch realistisch ist. Ich nehme nur wahr, dass die Alt-Internationalen nicht immer Konstruktives von sich geben.

Wer war für Sie fußballerisch wichtig?
Ein Vater ist immer ein Vorbild. Dessen Stärken willst du immer mitnehmen. Zu gewissen Zeiten lässt du dich von manchen Spielern leiten. Spontan fällt mir Rijkaard ein, zu Zeiten beim AC Milan unter Arrigo Sacchi. Rijkaard hat eine Ausstrahlung auf dem Platz gehabt. Ihn habe ich sehr geschätzt.

Erinnern Sie sich noch an den 15. November 1989?
Ja, wenige Tage nach dem Mauerfall. Das 0:3 mit der DDR in Wien.

Wie haben Sie diese Tage erlebt?
Es gab zwei Schwerpunkte. Zehn Spieler hatten damals Magenprobleme. Und dann diese gedanklichen Veränderungen – wir waren nicht fokussiert, das war einfach zu viel für uns. Wir haben uns gefragt, was das bedeutet. Die Geschichte hat damals etwas so Gewaltiges getan, das lässt sich nicht mit einem Fußballspiel lösen.

Im Teamcamp ging es damals um nichts anderes?
Richtig. Links, rechts, oben, unten. Immer nur dieses Thema. Wir konnten uns für die WM qualifizieren. Dann kam einer und gab zu bedenken: Jetzt ist die Mauer weg, sie reden schon von einem Staat. Uns wird es so nicht mehr geben, auch wenn wir zur WM fahren.

Sie kommen aus dem DDR-Sportsystem. Was ist davon nach der Wiedervereinigung verloren gegangen?
Das ist ein heikles Thema. Man hat versäumt, Sportart-übergreifend, die Qualität der damaligen Trainer anzuerkennen. Die war top. Und dadurch wurde auch nicht für einen gesunden Nachwuchs an Trainern gesorgt. Alles wurde durch das Thema Doping überdeckt. Das war auch richtig so, aber Inhalte und Organisationsformen wurden nicht weitergefördert. Dadurch wurde viel vernichtet.

Sind Sie durch dieses System, in dem Sie aufgewachsen sind, ein politischer Mensch geworden?
Nein. Im eigentlichen Sinne bin ich nicht politisch. Aber in gewissen Positionen muss man Politik betreiben. Das habe ich gelernt.

Zur Person: Europas Bester im Jahr 1996

Sammer: "Koller, eine kluge Wahl"

Matthias Sammer (* 5. September 1967) gab 1985 sein Debüt in der Kampfmannschaft von Dynamo Dresden. Trainer war sein Vater Klaus. 1990 gewann er das Double. Danach spielte er bei Stuttgart, Inter Mailand und Dortmund. Mit der Borussia wurde er zwei Mal Meister und Champions-League-Sieger. Mit dem Nationalteam gewann er 1996 den EM-Titel und wurde zu Europas Fußballer des Jahres gewählt. Im Jahr 2000 wurde er Dortmund-Trainer (Meister 2002). Seit 2006 ist er DFB-Sportdirektor. Sammer ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in München.

  

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