Ein Koller im Nationalteam ist genug

Wandersleut’: Marcel Sabitzer, Kevin Wimmer, Lukas Hinterseer und Alessandro Schöpf (von links) erforschten die Wälder rund um Laax.
Keine Experimente und viel Abwechslung – so sagt der Teamchef dem Lagerkoller den Kampf an.

Es war absehbar, dass dieses Thema über kurz oder lang einmal zur Sprache kommen würde. 23 Männer auf einem Haufen, weit weg von ihren Familien, und das über einen Zeitraum von mehreren Wochen – das birgt zwangsläufig Probleme und Konfliktpotenzial. Dass aber dann schon am ersten Tag des Trainingslagers der österreichischen Nationalmannschaft in Laax die Frage nach dem Miteinander und der Monotonie in den kommenden Wochen auftauchte, kam doch etwas überraschend.

"Ich glaube nicht, dass es bei uns zu einem Lagerkoller kommen wird", sagte also Julian Baumgartlinger. Der Mittelfeldspieler betonte dabei das Wort "Koller" und grinste schelmisch in Richtung seines Vorgesetzten, der neben ihm auf dem Podium Platz genommen hatte.

Alter Witz

Diesen Seitenhieb ließ der österreichische Teamchef genauso lächelnd über sich ergehen wie die Wortspende von Adrian Steiger beim offiziellen Empfang am Sonntag. Der Gemeindepräsident von Flims hatte da dem ÖFB-Team die Entstehung der Region mit den Worten erklärt: "Vor 10.000 Jahren gab es hier einen Felssturz, da sind viele Steine sozusagen heruntergekollert. Entschuldigung, aber dieser Kalauer musste jetzt sein."

Das Thema Lagerkoller beschäftigt Marcel Koller und seinen Betreuerstab natürlich weit mehr als die geologischen Formationen in Graubünden. Auch wenn die Österreicher gestern eine Exkursion in eben jene berühmte Rheinschlucht machten, die durch besagten Felssturz entstanden ist.

Neue Erfahrung

Für fast jeden in diesem ÖFB-Team ist es eine völlig neue Erfahrung und Herausforderung, über einen Zeitraum von einem Monat – im Erfolgsfall sogar noch deutlich länger – unter einem Hoteldach zu leben und praktisch rund um die Uhr aufeinanderzupicken. Mit Özcan, Prödl, Garics, Harnik und Kapitän Fuchs, der gestern in Laax eintraf, haben nur fünf aktuelle Spieler den Ernstfall EM-Endrunde schon einmal mitgemacht (2008). Wer kann da schon sagen, ob die ständigen kleinen Streiche und flotten Sprüche, die Marko Arnautovic gerne zum Besten gibt, nicht irgendwann einmal anstrengend werden? Wer weiß heute schon, wie’s in der vierten Woche in der österreichischen Wohn- und Spielgemeinschaft um den Haussegen bestellt sein wird? "Der Moment wird kommen, an dem man sich denkt: ,Drei Tage im eigenen Bett schlafen, wäre nett‘", glaubt Julian Baumgartlinger.

Bewährtes Personal

Doch diese österreichische Nationalmannschaft scheint weit weniger anfällig für das Phänomen Lagerkoller oder teaminterne Zwists zu sein als vielleicht andere EM-Teilnehmer. Dafür ist das Gros der Mannschaft nun einfach schon zu lange zusammen; dafür gibt es in diesem Team auch zu viele Spieler mit einer hohen Sozialkompetenz; und dafür ist vor allem auch das Abenteuer EM zu spannend. "Wir haben das so ja noch nicht erlebt", sagt Julian Baumgartlinger.

Vor allem aber ist Teamchef Marcel Koller um Harmonie bemüht. Nicht von ungefähr hat er auf die Möglichkeit verzichtet, während des Trainingslagers zusätzliche Spieler zu testen und damit vielleicht Unruhe heraufzubeschwören. Und Ausflüge wie etwa jene gestern in die Rheinschlucht oder in den Golfclub von Sagogn sollen für Abwechslung und gute Stimmung sorgen.

"Man kann vieles planen", sagt Teamchef Marcel Koller, "aber das Wichtigste wird in den nächsten Wochen sein, dass wir genau auf die Spieler eingehen."

Geht es nach dem Wörterbuch, gibt es dieses Phänomen im Französischen nicht.

Langenscheidts Großes Schulwörterbuch hat eine Übersetzung für Lagerkeller, aber nicht für Lagerkoller.

Dabei ist gerade Frankreichs Team ein anschauliches Beispiel für einen besonders aggressiven Ausbruch dieses sozialen Stressphänomens. Bei der WM 2010 nannte Nicolas Anelka seinen Teamchef einen "fils de pute" (aus Jugendschutz-Gründen bleibt der Langenscheidt zu). Und als ein anderer Spieler damals mit Journalisten sprach, schlenderte Anelka mit Franck Ribéry vorbei. Yoann Gourcuff senkte den Blick und drängte an die Absperrung. "Um wie der Klassenbeste dem Rüpel der Schule Platz zu machen, um keinen Schlag auf den Hinterkopf zu bekommen", schrieb L’Equipe.

Die Typen und Charaktere in einem rund 50 Personen bestehenden Aufgebot wie dem Nationalteam sind ein Querschnitt durch die Bevölkerung. Man stelle sich vor, dass man die Menschen in seinem Großraumbüro sechs Wochen lang ständig um sich hat. Nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Frühstück, beim Mittagessen, in der Pause. Und natürlich auch beim Abendessen.

Familienväter treffen auf kindliche Gemüter. Zwar haben sie alle ein Ziel, aber der Weg dorthin ist mühsam. Also hat vor acht Jahren, beim letzten Großereignis mit österreichischer Beteiligung, der Teamchef nicht die besten Spieler einberufen, sondern die richtigen.

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