Die magische Nacht von Istanbul
Es gibt Momente im Leben, die vergisst man nicht. Die hat man fest gespeichert. Und sie kommen einem immer wieder in den Sinn. So einer in meinem Leben war jener am 25. Mai 2005 irgendwo im Nirgendwo der türkischen Mega-City Istanbul.
Es passierte um kurz nach 23 Uhr Ortszeit. Der FC Liverpool hatte gerade im Finale der Champions League im Atatürk-Olympiastadion gegen Milan das 2:3 erzielt. Ein ruhiger Arbeitsabend – die scheinbar wichtigsten Informationen waren telefonisch nach Wien durchgegeben – wurde plötzlich ein hektischer, weil ein Spiel, das nach der 3:0-Pausenführung längst entschieden schien, plötzlich wieder offen war.
Der Griff zum unter meinem Pult in einer Tasche verstauten Laptop ist so nah, als wäre er gerade passiert. Ausgepackt, angesteckt, eingeschalten – alles passierte in Trance. Als Liverpool ausglich, da war mein Laptop gerade mitten im Hochfahren.
Privatduell
Von dem, was in der nächsten Stunde auf dem Rasen folgte, bekam ich nur mehr Fragmente mit. Die Partie war längst ein Privatduell zwischen Milan-Star Andrej Schewtschenko und Liverpool-Torhüter Jerzy Dudek. Immer wieder war der Pole zu Stelle, vereitelte eine Chance nach der anderen. Dudek rettete sein Team ins Elferschießen und wurde in diesem zum Helden, als er just den entscheidenden Elfer von Schewtschenko abwehren konnte.
Währenddessen haute ich in die Tasten, wollte die elektrisierende Atmosphäre beschreiben, die dank der 45.000 Liverpool-Fans im riesigen Oval herrschte. „Fußball als Hochschaubahn der Gefühle, als Theater der Träume, als Wellental der Emotionen“, schrieb ich damals. Und diese Erinnerung habe ich ebenfalls noch immer im Kopf, wenn ich an jenen 25. Mai vor zehn Jahre denke.
69.500 Zuschauer wurden Zeuge eines der denkwürdigsten Finalspiele der Fußball-Historie. „Es ist das größte Fußballmärchen, das jemals erzählt wurde“, schrieb der englische Daily Mirror am Tag danach. Mit „sechs Minuten Wahnsinn“ beschrieb Corriere dello Sport die spektakuläre Aufholjagd des FC Liverpool.
Der Abend in der riesigen Arena, die auf einer ehemaligen Müllhalde für Olympische Spiele errichtet wurde, die nie in Istanbul stattfanden, hatte schon gut begonnen. Auf einer Toilette stand er plötzlich neben mir, der Held meiner Jugend: Diego Maradona. Schon längst nicht mehr körperlich auf Spielniveau, aber immer noch umgeben von der Aura eines Weltstars – Bodyguards inklusive. Was sollte da noch Erzählenswerteres passieren?
Werbeveranstaltung
Was dann allerdings auf dem Rasen folgte, war viel mehr. Es war eine „Machtdemonstration der Trademark Fußball. Ein Feuerwerk an Kunst, Athletik, Unterhaltung“, wie KURIER-Kolumnist Martin Sörös damals schrieb.
Es war die Unmöglichkeit der Ereignisse, die diesen Abend so besonders machte. Ein italienisches Spitzenteam, das 3:0 führt, hat in 999.999 von einer Million Spielen dieses gewonnen. Und eben dieses eine nicht gewonnene war jenes Champions-League-Finale 2005.
Es war und ist unvorstellbar, dass sich eine der weltbesten Abwehrreihen mit den brasilianischen Weltmeistern Dida und Cafu, den Haudegen Stam und Nesta sowie Legende Maldini in sechs Minuten drei Tore schießen lässt. Aber genau das ist von der 54. bis zur 60. Minute passiert.
Just Kapitän Steven Gerrard, der als letzter „Held von Istanbul“ gerade Liverpool verlassen hat, hatte mit seinem 1:3 eine Aufholjagd eingeleitet, die die Fans schon in der Pause heraufbeschwört hatten. Das legendäre „You’ll never walk alone“ erklang voller Inbrunst aus 45.000 Kehlen und erzeugte Gänsehautfeeling.
Als Dudek den letzten Elfer abwehrte, war es endgültig eine magische Nacht für die Engländer. Lange nach Mitternacht stimmten die Fans gemeinsam mit ihren Helden auf dem Spielfeld die Queen-Siegerhymne „We Are The Champions“ an. „Der Pokal gehört unseren unglaublichen Fans“, meinte Gerrard.
Stimmungsmacher
20 Jahre nach der Schande von Brüssel, als Ausschreitungen im Meistercup-Finale 39 Juventus-Anhänger das Leben kosteten, waren die Liverpool-Fans die größten Sieger. Schon vor dem Spiel hatten sie am Taksim-Platz für positive Stimmung gesorgt. Auch als ihr Team 54 Minuten chancenlos war, war kein böses Wort über Milan im weiten Rund der Betonschüssel zu hören.
Ein Liverpool-Fan, der extra für das Spiel aus Sydney eingeflogen war, meinte in einer Istanbuler Bar knapp vor Sonnenaufgang nur: „Diese Nacht war die unglaublichste meines Lebens.“ Nicht nur seines ...
FC Liverpool – AC Milan 3:3 (3:3, 0:3) n.V., 3:2 i. E.0:1 Maldini (1.), 0:2 Crespo (39.), 0:3 Crespo (44.), 1:3 Gerrard (54.), 2:3 Smicer (56.), 3:3 Xabi Alonso (60./Elfer) Elferschießen: Serghino über das Tor, 1:0 Hamann, Pirlo scheitert an Dudek, 2:0 Cisse, 2:1 Tomasson, Riise scheitert an Dida, 2:2 Kaka, 3:2 Smicer, Schewtschenko scheitert an Dudek. Liverpool: Dudek; Finnan (46. Hamann), Carragher, Hyypia, Traore; Alonso; Luis garcia, Gerrard, Riise; Baros (85. Cisse), Kewell (23. Smicer). Trainer: Benitez. – Milan: Dida; Cafu, Stam, Nesta, Maldini; Gattuso (112. Rui Costa), Pirlo, Seedorf (86. Serghino); Kaka; Schewtschenko, Crespo (85. Tomasson). Trainer: Ancelotti. Istanbul, Atatürk-Olympiastadion, SR Mejauto Gonzalez (ESP), 69.500 Zuschauer.FC Liverpool – AC Milan 3:3 (3:3, 0:3) n.V., 3:2 i. E.
0:1 Maldini (1.), 0:2 Crespo (39.), 0:3 Crespo (44.), 1:3 Gerrard (54.), 2:3 Smicer (56.), 3:3 Xabi Alonso (60./Elfer-Nachschuss)
Elferschießen: Serghino über das Tor, 1:0 Hamann, Pirlo scheitert an Dudek, 2:0 Cisse, 2:1 Tomasson, Riise scheitert an Dida, 2:2 Kaka, 3:2 Smicer, Schewtschenko scheitert an Dudek. Liverpool: Dudek; Finnan (46. Hamann), Carragher, Hyypiaä, Traore; Alonso; Luis Garcia, Gerrard, Riise; Baros (85. Cisse), Kewell (23. Smicer). Trainer: Benitez. – Milan: Dida; Cafu, Stam, Nesta, Maldini; Gattuso (112. Rui Costa), Pirlo, Seedorf (86. Serghino); Kaka; Schewtschenko, Crespo (85. Tomasson). Trainer: Ancelotti. Istanbul, Atatürk-Olympiastadion, SR Mejauto Gonzalez (ESP), 69.500 Zuschauer.
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