Insel der Glückseligen: Island lässt keinen kalt

Der Einzug von EM-Neuling Island ins Viertelfinale ist eine der größten Sensationen der Fußballgeschichte.

Gottlob haben sich die Isländer mit ihrem blauen Fußballwunder etwas Zeit gelassen. Nicht auszudenken, die Nationalmannschaft hätte schon in früheren Jahren bei Endrunden groß aufgespielt. Es hätte daheim in Island womöglich gar niemand mitbekommen.

Der fernsehfreie Tag, den es in Island bis in die 1980er- Jahre einmal die Woche gab, ist mittlerweile Geschichte. Aber wahrscheinlich hätten sich die Inselkicker ohnehin auch über die gesetzlich angeordnete Mattscheibe hinweg gesetzt. So wie sie im Moment überhaupt alles auf den Kopf stellen und Island zu einem kleinen Land der unbegrenzten Möglichkeiten machen. In jeder Hinsicht.

Wahllokal in Annecy

Wegen der Euphorie um die Fußballer war am vergangenen Wochenende in Annecy sogar kurzfristig ein Wahllokal eingerichtet worden. Um den 30.000 Isländern, die gerade die EM in Frankreich beleben, die Möglichkeit zu geben, ihren neuen Präsidenten zu wählen. 30.000 – das sind zwölf Prozent der Wahlberechtigten.

Aber wenn Island schon einmal bei einer EM am Ball ist, wenn es dann auch noch im Achtelfinale gegen England geht, wenn das Mutterland des Fußballs dann sogar noch in die Knie gezwungen wird – dann müssen in Island selbst die allseits verehrten Trolle, Gnome und Elfen ins Abseits rücken. Aus Respekt vor den populären Sagengestalten sind Feuerwerke eigentlich verpönt und verboten. Als nach dem 2:1-Erfolg gegen England viele grelle, bunte Blitze über der Hauptstadt Reykjavik zuckten, da meinte der Kommentator im staatlichen Fernsehen nur: "Eine freundliche Bitte an die Polizei: Bitte niemanden festnehmen. Heute ist das okay."

Sieger der Herzen

Mit ihrer begeisternden Art, Fußballfeste zu feiern, mit ihrem mitreißenden Stil, Fußball zu spielen, sind diese Isländer das Beste, was dieser EM passieren konnte, die vor dreieinhalb Wochen in Marseille und in anderen Stadien mit so hässlichen Szenen begonnen hatte. Der Titel "Europameister der Herzen" ist Island jedenfalls schon jetzt nicht mehr zu nehmen.

Es ist ja auch ein Land und ein Inselvölkchen, von dem eine große Faszination ausgeht: Wo Vulkane, den Flugverkehr in halb Europa lahmlegen können; wo das Nationalgetränk "Schwarzer Tod" heißt und Gammelhai in aller Munde ist; wo Straßen um Hunderte Meter verlegt werden, um ja keinen Troll zu stören; wo es das einzige Penismuseum der Welt gibt; wo niemand Bitte sagt, weil es auf isländisch dieses Wort gar nicht gibt; wo das Boxen erst seit 2001 erlaubt ist.

Dazu passt diese etwas andere Nationalmannschaft, in der der Co-Trainer (Heimir Hallgrimsson) als Zahnarzt ordiniert und der Tormann (Hannes Thor Halldorsson) sich als Filmregisseur einen Namen gemacht hat.

Typen mit Charakter

Es sind verwegene Typen, vollbärtig, langhaarig und tätowiert, eine Mannschaft wie aus einem Wikingerfilm, ein Team wie die Vulkanlandschaft in der Heimat: Brodelnd, ständig aktiv, unberechenbar. Die nächste Eruption ist nur eine Frage der Zeit.

Insel der Glückseligen: Island lässt keinen kalt
Iceland supporters celebrate their team's win after the Euro 2016 round of 16 football match between England and Iceland at the Allianz Riviera stadium in Nice on June 27, 2016. Iceland won the match 1-2. / AFP PHOTO / BERTRAND LANGLOIS
Schön langsam stoßen die Isländer freilich an ihre Grenzen. Nicht nur der mittlerweile weltberühmte TV-Kommentator Gudmundur Benediktsson, dem man aus gesundheitlicher Sicht nach seinen Torjubelexzessen fast schon wünschen müsste, Island käme nicht ins Finale. In Island steht das öffentliche Leben still, weil viele der 330.000 Einwohner seit Wochen in Frankreich sind. Und all jene, die daheim geblieben sind, die zieht’s jetzt unweigerlich zum Viertelfinale gegen Frankreich. Das große Dilemma: Es heben nur drei Flieger jeden Tag von Reykjavik Richtung Frankreich ab.

Aber an Unterstützung wird es den Isländern am Sonntag gegen Frankreich ohnehin nicht mangeln. Wie sagte doch gleich Trainer Heimir Hallgrimsson: "Wir sind jetzt das Zweit-Team aller Fußballfans."

Für viele Fans sind diese Isländer freilich längst schon zur ersten Wahl geworden.

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